Bei meinem ersten Bewerbungsgespräch hatte ich Glück: “Welche ihrer Seiten schätzen Sie besonders?” wollte mein Gegenüber wissen. Ich atmete aus und sagte: “Ich lese gern und habe viele Bücher, da wäre es schwierig zu sagen, welche Seiten ich besonders schätze …” Ein Lachen und ein Austausch über Bücher folgte. Uff. Ich hatte sie gefürchtet, die berühmte Frage nach meinen Stärken.
Dabei hatte ich das doch extra trainiert: die Frage nach den eigenen Schwächen und Stärken in einem Vorstellungsgespräch zu beantworten. Nicht zu abgedroschen sollte die Antwort sein, nicht zu allgemein. Natürlich bin ich kreativ, kommunikativ, zuverlässig und arbeite gerne im Team. Genau das sagen fast alle Menschen in so einer Situation von sich. Svenja Hofert, Karriereberaterin und Autorin aus Hamburg, erklärt, dass Eigenschaften, die fast jeder hat, keine besonderen Stärken sind.
Was sind Stärken – und wie erkenne ich meine eigenen?
Es fällt gar nicht so leicht, eigenen Stärken zu erkennen. “Stärken kann nicht jeder sehen, sondern nur jemand, der eine Stärke auch als Stärke schätzt”, schreibt Svenja Hofert in ihrem aktuellen Buch. “Mit etwas Glück gibt es dann eine Rückmeldung”, sagt sie. “Oft aber auch nicht.” Und genau das macht es so schwierig, eigenen Stärken zu erkennen: Schwächen werden in Form von Kritik viel öfter gespiegelt.
Je älter ich werde, desto besser weiß ich um meine Schwächen. Ich bin einfach kein Morgenmensch. Egal, wie früh ich schlafen gehe, um 7 Uhr kann ich vielleicht aufräumen. Aber nicht kreativ sein. Mit Stärken ist das schon schwieriger. Allerdings fallen die einem selbst gar nicht so auf. Es sind Dinge, die nicht glatt laufen, die ich nicht gut kann, die mich stören – die habe ich ständig im Kopf. Aber das, was mir Spaß macht, Dinge, die ich ohne innerliches Seufzen schnell und gut kann, die sind selten präsent. Genau, wie ich beim Blick in dem Spiegel selten die Vorzüge, sondern eher fiese Fältchen oder Pickel sehe, so ist das auch mit den Stärken. Außerdem gehört es sich ja nicht, über eigenen Vorzüge zu sprechen. So selten wie ich: “In meinem neuen Kleid sehe ich richtig gut aus”, sage, so selten, spreche ich darüber, was ich für meine Stärken halte. Eigenlob und so. Ist doch peinlich, oder?
Der Blick von außen auf eigenen Stärken
Ich bin neugierig, kann schnell lesen und habe viele Ideen. Das sind Stärken, die ganz sicher auch meine Berufswahl beeinflusst haben. Schon im Studium habe gemerkt, dass ich gut vor großen Gruppen frei sprechen kann, ich halte gern Vorträge und kann gut erzählen. Aber … und schon möchte ich eigenes Können relativieren.
Komisch ist, dass mir vor allem Stärken als erstes einfallen, die zu meinem Beruf gehören. Schreiben und recherchieren können. Die eigenen Stärken kennen und sich darüber auch zu freuen, sie zu nutzen und sie zu schätzen, ist gar nicht einfach, das weiß auch Svenja Hofert. Sie hat gerade das Buch “Was sind meine Stärken?” veröffentlicht. Darin ist auch ein sehr guter umfangreicher Selbsttest. Auf mich passen Geschichtenerzählerin und Schreibtalent. Berufswahl passt also.
Ein solches Buch, ein Coaching, aber auch gute Freunde und Kollegen können helfen. Welche Stärken schätzen sie denn? “Du kannst gut auf andere zugehen und dir kann man sich gut anvertrauen”, erklärte mir eine Freundin. “Du kannst gut backen”, ergänzt eine andere. Es gibt viele Stärken, die ich habe, die ich nicht beruflich nutze. Ich kann gut vorlesen. Koche und backe gern und kann auch aus wenigen Zutaten meist etwas zaubern. Ich habe ein ganz gutes Gefühl für Formen und Farben, daher mag ich gern gestalten.
Wie oft sage ich eigentlich meinen Freundinnen, wie wichtig ihre Stärken sind? Wie kreativ ich Ana finde, deren Balkon eine Oase in der Großstadt ist, während bei mir nur ein paar Pflänzchen sprießen? Wie großherzig und hilfsbereit Angela ist? Wann habe ich Esther und Verena gesagt, wie glücklich mich die Zusammenarbeit hier im Blog macht, und wie sehr ich ihre Begabungen schätze?
Das mache ich viel zu wenig, genauso wie ich zu wenig kreativen Flow genieße und stolz auf meine Erfolge bin. Meine Tochter kann das besser. Als sie zum Beispiel mit fünf Jahren ihr Seepferdchen machte und am Abend sagte: “Heute bin ich richtig stolz auf mich!”
Dass ich mir überhaupt Gedanken über Stärken mache, verdanke ich Svenja Hofert. Sie hat nämlich zu einer Blogparade zum Thema Stärken aufgerufen und mich gebeten etwas zu schreiben. Danke! Dieser Beitrag ist mir gar nicht leicht gefallen, aber ich habe nun ein paar Vorsätze: Ab sofort achte ich bewusster auf meine Stärken. Im April und Mai werde ich auf zwei Konferenzen als Speakerin teilnehmen. Das finde ich richtig gut, und ich bin stolz auf die Einladungen. Das war dann doch etwas Eigenlob. Und meine Freundinnen? Die rufe ich an. Weil ich sie und ihre Stärken schätze.
Linktipp: Blog von Svenja Hofert
Liebe Silke Plagge,
ein sehr gelungener Beitrag wie ich finde. Gerade weil er so persönlich ist, gefällt er mir besonders gut. Und ja, ich finde auch, dass wir anderen viel öfter ein positives Feedback zu ihren Stärken geben sollten. Weil wir dann nämlich unsere Aufmerksamkeit auf die Stärken richten und so in eine positive Feedbackschleife geraten. Gerade in der Beziehung zu anderen ist das wichtig, weil die Stärken die andere an uns wahrnehmen nämlich auch die sind, die besonders mehrwertig sind.
Danke für den Beitrag
Martina Baehr
Liebe Martina,
herzliche Dank! Ich arbeite da noch dran, immer wieder!
Lieben Gruß,
Silke