Als ich die zerknitterte Klarsichthülle ganz hinten im Ausflugs-Ordner unseres Ferienhotels entdeckte, setzte mein Herz für einen Augenblick aus. Welch eine Entdeckung! So und nicht anders musste Heinrich Schliemann sich gefühlt haben, als er das erste Mal im Leben über trojanische Trümmerfelder stolperte. Eine Fahrt in ein einsames Bergdorf wurde dort angekündigt. Jeden Donnerstag in der Hauptsaison. Zu Menschen die, so behauptete der Text kühn, quasi noch nie Kontakt zur Zivilisation gehabt hatten. Inklusive Abendessen und Volkstanz, Softdrinks inklusive. Ich hatte Feuer gefangen, und Mutti keine Chance. Von nun an ließ ich ihr keine Ruhe mehr, bis sie endlich seufzend zur Rezeption schlenderte und den Abenteuertrip buchte.
Was soll ich sagen: Weder die Großraum-Busparkplätze am Ortseingang ließen mich an der Einzigartigkeit meiner Entdeckung zweifeln, noch die fließbandartige Reihe älterer Damen, die uns entlang der Dorfstraße lächelnd Gehäkeltes entgegenstreckten. Aber als ich schließlich nach den Genuss von reichlich Pommes zu Musik von einem leiernden Tonband Hüpfschritte machte, in einem Kreis Erwachsener, die alle genau so sonnenverbrannt und blond waren wie die Gäste im Hotel-Speiseraum, da kamen mir doch leise Zweifel. Hierhin gehörten nämlich eigentlich nur die Einheimischen, so wie es der Text versprochen hatte. Und Mutti. Ich war ja erst neun.
Neunzig Prozent Entspannung, zehn Prozent Ehrgeiz: das Mischungsverhältnis, aus dem unsere Urlaubsträume sind. Wir wollen auf schattigen Piazzas Cappuccino trinken, unser Mountainbike malerisch auf einer Almwiese fallen lassen – aber bitte nicht auf die Picknickdecke unserer Nachbarn aus Trochtelfingen. Das schlimmste Urteil aus dem Mund eines Touristen? Genau: „Alles voller Touristen.”
Natürlich gibt es Möglichkeiten, dem zu entkommen. Variante eins: Man bewegt sich „jenseits touristischer Trampelpfade“, wie es im Reiseführerdeutsch heißt. Wenn da nicht eine Kleinigkeit wäre: Die Massen trampeln ja nicht grundlos auf dem Pfad. Denn jenseits ist es niemals ganz so schön. Die Berge nicht so spektakulär, die Strände voller Algen oder Plastikmüll, und die Einheimischen so einheimisch, dass sie sich schlapplachen über unser Traveller-Esperanto („Beach, playa, you know – where normal people go, like, votre famille?“). Entdeckt man dann doch das Bergdorf ohne Busparkplatz und die versteckte Piazza, dann hat das einzige Ristorante dort Neonlicht wie der türkische Kulturverein Duisburg und macht abends um sieben zu. Obwohl es ein Kriterium erfüllt, das unter Geheimtippjägern hoch im Kurs steht: „Da gehen die Einheimischen hin!“
Zweite Variante: zu komischen Jahreszeiten populäre Reiseziele ansteuern. Zum Beispiel Anfang März nach Ibiza. Ist toll da, weiß ich aus eigener Erfahrung. Der Ginster blüht, die Strände sind menschenleer – und sie riechen penetrant nach Farbe und Lösungsmittel. Denn die Strandbars werden gerade für die Hauptsaison frisch gestrichen. Nix Pescado, nix Vino tinto. Die Altstadt von Eivissa ist ebenfalls menschenleer, Läden und Galerien mit dicken Sicherheitsschlössern fest versperrt.
Wahrscheinlich habe ich diesen Ibiza-Trip gebraucht, um mir die Augen zu öffnen. Ich reise immer noch da hin, wo alle hinreisen, zum Beispiel nach Südtirol oder Dänemark – aber ich halte mich nicht mehr für anders als die anderen. Ich stehe vor dem Spiegel auf der Flugzeugtoilette und sage zu mir: „I am a tourist. And I am proud.“ Wenn Amerikaner sich auf dem Canale Grande schreiend von Gondel zu Gondel verbrüdern („Oh my God, we’re from Wisconsin, too!“), dann bedenke ich sie nicht mehr mit einem blasierten Blick à la „Altes Europa“, sondern nicke ihnen warmherzig zu. Käme ich jemals an den Grand Canyon, würde ich ohne zu zögern mit schwäbischen Hausfrauen das Preis-Leistungsverhältnis von Helikopterflügen diskutieren. Und wenn ich das nächste Mal in einem völlig abgelegenen Bergdorf mit Busparkplatz stranden werde, dann werde ich meiner Sitznachbarin eine Karaffe Landwein ausgeben und dann gemeinsam mit ihr über einsame Klostertrips und Survival-Training im Dschungelcamp fachsimpeln. Versprochen.
Schön beschrieben, ich musste mehrfach schmunzeln und an einen meiner ersten Urlaube in Bulgarien denken, an denen man sich auf einem vergleichbarem Fest über glühende Kohlen tragen lassen konnte..
Die Geheimtipps habe ich später trotzdem gefunden. Es gibt sie. Und dann habe ich kapiert, dass man in diesem Fall -tipp streichen muss und “Geheim” behalten. So halte ich es bis heute…