Es gibt Städte, die sind wie unerfüllte Lieben. Zum Bespiel bin ich Berlin wohl nur deshalb in ewiger Sehnsucht verbunden, weil es mir im Lauf meiner jüngeren Jahre immer wieder die kalte Schulter gezeigt hat. Die Jobs, die ich wollte, gab’s dort nicht. Und die Männer, die es dort gab – es waren mehrere! – wollten mich nicht, oder ich wollte sie nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Es gab also nie einen guten Grund, meine Koffer zu packen und in die Hauptstadt zu ziehen. Und das war auch gut so – um den ehemaligen Berliner Bürgermeister zu zitieren.
Denn dann gibt es noch die Städte, die sind wie eine gut geölte Alltagsbeziehung nach anfänglich stürmischer Romanze. Da fühlt man sich zugehörig, da kommt man klar, und manchmal gibt es auch ganz besondere Momente. Auftritt Hamburg: Als ich in den letzten Wochen des letzten Jahrtausends dort hinzog, war ich völlig elektrisiert von dieser Mischung aus Industrieromantik und Weltoffenheit. Heute bekomme ich beim Anblick von Hafenkränen keine feuchten Augen mehr, aber dass diese Stadt die Richtige für mich ist, daran gibt’s keinen Zweifel. Das habe ich gerade letzte Woche wieder festgestellt, als ich in München war.
Traumstädte: Wo der eine ins Schwärmen kommt, schüttelt der andere den Kopf
Denn dann gibt es noch eine dritte Kategorie von Städten: Städten wie Ex-Lieben, mit denen man nach einer schmutzigen Trennung durchaus freundschaftlich verbunden ist. Vorausgesetzt, man sieht sich nicht zu oft und kommt sich nicht zu nah.
Mit München und mir, das hat eigentlich gut angefangen. Oder zumindest hielt ich es für gut, denn der Name stand auf der Liste meiner Traumstädte ganz oben. Ich war 20, hatte gerade das Abi in der Tasche und wohnte in einem möblierten Zimmer in der Dachauer Straße. Draußen vor der Tür befanden sich vier Fahrspuren, eine Ampel und eine Straßenbahnhaltestelle. Tags war der Lärm der anfahrenden Autos so laut, dass ich mein eigenes Wort drinnen nicht verstand, nachts lärmten Betrunkene an der Haltestelle herum. Aber das Zimmer war meins, und die Aufgaben, die die Stadt mir stellte, nahm ich verdammt ernst. Die wichtigste von allen: Herauszufinden, an welchem Abend der Woche man in welchem Club in welchem Aufzug zu erscheinen hatte, um vom Türsteher begnadigt zu werden, im Park Café, im Babalu, im Nachtwerk. Manchmal erfolgreich, meistens erfolglos, aber ich hätte mich nicht darüber beschwert. Ich dachte: Das muss halt so.
Muss halt so! Oder doch nicht?
Diesen Satz dachte ich ohnehin sehr häufig. Wenn ich mal wieder um halb zwölf Uhr abends mit Freunden nach einer Kneipe suchte, die uns nicht innerhalb der nächsten 30 Minuten hinauswerfen würde. Wenn die Bedienung im Straßencafé im Sommer uns ängstlich ermahnte, wir möchten doch bitte mit unseren Stühlen nicht über den durchgezogenen Strich auf dem Bürgersteig hinaus rücken, denn sonst riefe die Frau von gegenüber sofort wieder die Polizei. Wenn ich vergeblich versuchte, den richtigen Tarif für meine Studentenmonatskarte bei den Verkehrsbetrieben zu ermitteln (eine Wissenschaft, für die man ein gesondertes Studium brauchte). Oder die Rentnerin aus der Wohnung unter uns – da wohnte ich schon nicht mehr in der Dachauer Straße – um 14.57 h keifend vor der Wohnungstür stand und uns die Hausordnung unter die Nase hielt, weil wir um 14.56 h einen Nagel in die Wand geschlagen hatten. „Mir san eine Hausgemeinschaft, da gibt’s klare Regeln!“ Bis ich irgendwann einen revolutionären Gedanken hatte: Traumstädte sehen anders aus.
Ehe sich jetzt die München-Fans empören, gleich ein Wort zur Klärung. Ja: Es gibt auch woanders auf der Welt Sperrstunden, seltsame U-Bahn-Tarife und keifende Nachbarn. Und nochmal ja, München hat wunderschöne Seiten. Die träge Sinnlichkeit eines Nachmittags in den Isarauen, der Blick vom Friedensengel im Sommer morgens um fünf nach einer durchtanzten Nacht, die Altbauten von Haidhausen, und kaum fährt man eine halbe Stunde in Richtung Garmisch, tut sich an einer Biegung der A 8 die ganze Pracht des Alpenpanoramas auf. Nur: Irgendwie hat das mit München und mir nie ganz gepasst. Vielleicht lag es ja auch gar nicht an München, vielleicht lag es an mir.
Offenbarung in der Buslinie 15
Der Höhepunkt meiner Beziehungskrise war erreicht, als ich im Sommer 99 zurück kam, nach ein paar Wochen im Ausland, und das Gefühl hatte: Dieser Stadt trieft eine bräsige Selbstgefälligkeit aus allen Poren, die ich keinen Tag länger ertrage. So ähnlich muss es Menschen gehen, die eines Morgens zur Waffe greifen, weil sie plötzlich nicht mehr aushalten, wie der Partner kaut. Oder sich schnäuzt. Oder sich am Kinn kratzt. Als ich kurze Zeit später mehr oder weniger den erstbesten Job annahm, der mir in Hamburg angeboten wurde, griff ich danach wie nach einem Strohhalm.
Ich weiß noch, wie ich das erste Mal mit dem Bus der Linie 15 vom Bahnhof Altona bis zur Alsterchaussee fuhr und mein Glück gar nicht fassen konnte, allein, weil sich die Stadtteile auf dieser 5-Kilometer-Strecke so sehr unterschieden: Von multikulti bis hanseatisch bürgerlich, vom graffiti-übersäten Hiphop-Laden bis zur italienischen Designerboutique. Ein Ort mit mehr Brüchen, mehr Kontrasten, weniger sauber, weniger selbstverliebt, und deshalb genau meins.
Meine Anti-München-Haltung ist längst einer nostalgisch eingefärbten Vertrautheit gewichen. Als ich letzte Woche für zwei Tage in meiner Ex-Stadt zu tun hatte, da war es wie einer dieser Momente, in denen sich getrennte Paare bei der Abifeier ihrer Kinder um den Hals fallen: Mei, schee war’s scho! Mitten im grauesten Winter aller Zeiten begrüßte mich München mit diesem knallblauen Himmel, den sich Süddeutschland manchmal ganz dreist schon im Winter überzieht. Auf dem Viktualienmarkt saßen Touris im T-Shirt, und eines meiner früheren Lieblingscafés, die Bar Centrale, gab’s auch noch. Als ich dem Kellner erzählte, dass ich vor 20 Jahren manchmal hier war, bekam ich eine geballte Ladung italienischen Charme zurück: „20 Jahre? Ma, Signora, da müsse Sie ja noch gewesen sein ein Kind!“ Schon klar, sowas sagt der zu jeder. Aber gut angefühlt hat sich’s trotzdem.
“Mir san in München, da gibt’s Regeln!”
Es hätte nicht viel gefehlt, ich hätte meine Entscheidung für Hamburg zum ersten Mal bereut. Bis zu dem Moment, in dem ich auf dem Rückweg zum Flughafen von einem Fahrkartenkontrolleur zur Schnecke gemacht wurde, morgens um viertel vor acht. Weil ich zwar korrekt einen Fahrschein erworben hatte, ihn aber nicht auch noch abgestempelt hatte. Da kennt der MVG-Scherge keine Gnade. Unterschleif! Personalausweis! Erhöhtes Beförderungsentgelt von 60 Euro! „Mir san hier in München, da gibt’s Regeln, an die müssen sich alle halten, gell?“ Drei Stunden später empfing mich Hamburg und hüllte mich in seine anheimelnde, graue Wolkendecke. Hier kommen die Einzelfahrscheine aus dem Automaten, und es reicht, wenn Datum und Uhrzeit draufstehen. Welch ein Glück.
Als ich in den Himmel sah, musste ich an meine Münchner Freundin Nina denken, die mich einmal im Dezember hier besucht hatte und gleich wieder weg wollte: Tage, an denen es nicht wirklich Tag wird, diffuses Licht, und selbst wenn die Sonne scheint, schafft sie’s kaum über den Horizont – da wird man ja depressiv! Mei: Es gibt eben Menschen und Städte, die sind füreinander gemacht. Und andere nicht. Gut, wenn man seine gefunden hat.
Wunderbarer Text! Spricht mir als Ex-Minga-Einwohnerin aus dem Herzen. Hamburg ist so viel schöner und mehr Heimat inzwischen. Ich freue mich auf die Nikolauslesung morgen mit dir im grauen Grau! 😉
Wie du weißt, ich lebe ja noch immer hier. Seit nunmehr 25 Jahren. Meine Begeisterung für die Stadt hält sich in sehr engen Grenzen – na, eben in solchen, die sie ja selber steckt. Wie von dir beschrieben. Weltstadt mit Herz? Mitnichten. Schön nach außen, das schon, in ihrem Kern ist sie grausam, impertinent und gierig.
Sorry, Minga, das sind meine Erfahrungen mit dir.
Das ist wohl sehr wahr – und solche Kommentare habe ich lustigerweise auch offline einige Male gehört, nachdem ich den Text gepostet hatte. Vielleicht musst du dich ja auch eines Tages trennen….ich hätte auch schon eine bessere Idee für dich :). Lieben Gruß, Verena