„Du, ja, du da! Hast du mal fünf Minuten für mich?“ Er setzt sein schönstes Schwiegersohnlächeln auf, tritt mir gerade so weit in den Weg, dass ich nicht über seinen Fuß stolpere und zeigt dabei auf die Aufschrift seines T-Shirts. Ich könnte jetzt hinschauen, muss aber nicht, denn ich weiß auch so ein paar Dinge über ihn: Erstens, das Lächeln gilt nicht mir persönlich, sondern der junge Mann will etwas ganz anderes von mir, nämlich Geld. Zweitens: Das Geld ist nicht für ihn, sondern für einen unbestreitbar guten Zweck. Politische Gefangene in Unrechtsregimen befreien, Klimawandel bekämpfen, Ärzte in syrischen Kriegsgebieten unterstützen, oder wenigstens ein Hospiz in Hamburg. Genaueres dazu auf seinem T-Shirt, dem Schild am Infostand oder dem Flyer, den er in der Hand hält. Drittens: Er war heute nicht der erste, und er wird nicht der letzte sein, der mich auf diese Weise anspricht. Dabei gehen Kollegen von ihm noch deutlich suggestiver vor: Die fragen nicht erst, ob ich kurz Zeit habe, sondern wollen wissen, ob ich ein guter Mensch bin.
Spendensammler: zu ehrenwert, um grußlos vorbei zu laufen
Bin ich das? Puh. Schwer zu sagen, zumindest nicht schlechter als andere. Aber wo fängt das Gutsein an? Und wo hört es auf, wenn man auf dem Weg zwischen zu Hause, Büro und Einkauf in der Fußgängerzone alle paar Meter von Vertretern hochseriöser Hilfsorganisationen gefragt wird, ob man sie nicht unterstützen möchte? Denn da stehen sie täglich, zwischen Mercado, Eisladen und Coffee Fellows, mit breitem Lächeln und guten Argumenten. Ich würde mich da auch hinstellen, schließlich kommen dort viele Leute vorbei. Wenn auch nicht alle fünf bis sechs Mal täglich, so wie ich. Schuldet man Menschen, die mit so viel Idealismus das Spendengeschäft ankurbeln, nicht wenigstens eine Erklärung, statt grußlos an ihnen vorüber zu eilen?
Fakt ist, ich bin nicht arm, so wie die Mehrheit der Menschen auch nicht, die tagsüber durch die Einkaufsmeile in meinem Hamburger Kiez schlappt. Fakt ist auch: Große Hilfsorganisationen geraten derzeit selbst in Not. Denn die Deutschen spenden immer weniger. Oder wenn, dann eher gezielt und persönlich: für eine Crowdfunding-Aktion, für ein lokales Hilfsprojekt. Häufiges Argument: Ich will doch nicht die Verwaltung eines Charity-Konzerns unterstützen, sondern wirklich Bedürftige! So ganz zieht das Argument allerdings nicht, sagen Vertreter des Deutschen Zentralinstitutes für Soziale Fragen (DZI): Schließlich sind Organisationen wie Brot für die Welt, Greenpeace und Co global agierende Wohltätigkeitsunternehmen, die tatsächlich einen gewissen Verwaltungsaufwand brauchen, um schnell und gezielt Gelder dort hin zu leiten, wo sie gerade benötigt werden. Und die auf verlässliche, regelmäßige Einnahmen angewiesen sind. Man macht mit den großen Namen der Charity-Branche also im allgemeinen nichts falsch.
Spendenzweck ist Herzenssache
Also spende ich monatlich eine mittelgroße Summe an einen der Wohltätigkeits-Multis, nämlich an Unicef. Das hat ein bisschen mit Tradition zu tun (als Kind habe ich einmal mit Freunden ein Theaterstück aufgeführt und wir haben damals das Eintrittsgeld für Kinder in Not gestiftet). Und ein bisschen damit, dass die Entscheidung für ein bestimmtes finanzielles Engagement Bauch- und Herzenssache ist. Genau wie die Entscheidung für einen Wohnort oder eine Brotsorte. Mir liegen Gesundheit und Bildung für Kinder besonders am Herzen, das macht andere gute Zwecke ja nicht weniger wertvoll.
Theoretisch kein Problem, wenn ich weiß: Von mir bekommt Unicef etwas, von meiner Nachbarin Amnesty International und von meinem Kollegen Oxfam. Praktisch aber schon. Denn es ist schon richtig: übers Jahr gesehen, gebe ich vermutlich mehr Geld für Schuhe aus als für notleidende Kinder. Und natürlich könnte ich noch für zwei, drei oder auch vier weitere Zwecke einen Dauerauftrag einrichten und müsste deshalb noch immer nicht auf Wein oder eine Wochenendreise verzichten. Nur: Irgendwo komme auch ich an meine Grenzen. So ein guter Mensch bin ich dann wohl auch wieder nicht. Auch wenn ich manchmal mehrmals pro Monat die gleiche Ausgabe der Obdachlosenzeitung Hinz und Kunzt kaufe und noch etwas oben drauf lege, weil ich es so rundum gelungen finde, dass man auf diese Weise Obdachlosen eine Aufgabe und damit mehr Würde geben kann. Oder mich als Romanautorin für Wohnzimmerlesungen ersteigern lasse, deren Einnahmen Ärzte ohne Grenzen zugute kommen. Lachhaft gegenüber dem hohen persönlichen und finanziellen Engagement das andere leisten, ich weiß.
Mittelgute Menschen und schnippische Bemerkungen
Es gibt Tage, da zische ich den Spendensammlern bei meinem Spießrutenlauf ein schlecht gelauntes „keine Zeit“ entgegen und schäme mich dafür. Oder ich wechsle weiträumig die Straßenseite. Es gibt Tage, da fühle ich mich bemüßigt, zu antworten. Zu erklären, dass ich es sehr ehrenwert finde, dass sie hier stehen und die Welt ein bisschen besser machen wollen. Aber dass ich für mich bereits etwas gefunden habe, um wenigstens einen finanziellen Beitrag zu leisten. Ich habe daraufhin schon nette Gespräche geführt und solche, die mich geärgert haben. Wenn entweder rundheraus abgestritten wird, dass man nach langfristig engagierten Neu-Mitgliedern sucht („nein, alles ganz unverbindlich!“), um mir dann doch langatmig Mindestbeiträge und Kündigungsfristen zu erklären. Oder wenn man mich nicht in der Fußgängerzone anspricht, sondern mich zu Hause überfällt, wo ich nicht weglaufen kann. Zwei Spendensammler eines ehrenamtlichen Rettungsdienstes klingelten eines Nachmittags an meiner Wohnungstür und wurden von Satz zu Satz schnippischer („Ja bitte, wenn Sie wirklich meinen, Sie könnten im Monat keine fünf Euro zusätzlich entbehren…“) Das empfand ich als Nötigung.
Ich glaube, der einzige Weg aus dem Dilemma ist, dass ich mir selbst ein T-Shirt drucken lasse. Oder einen Flyer. Ich habe fünf Minuten. Aber es lohnt sich nicht, in mich zu investieren. Denn ich spende bereits. Ich bin ein mittelguter Mensch. Gut, dass du trotzdem hier stehst. It’s complicated. Vielen Dank.
Sehr schöner Beitrag über die Grenzen der Spenden-Grosszügigkeit (speziell, da man ja heute die ganze Zeit dafür von der “Spendenindustrie” angehauen wird – das nervt). Allerdings ein paar Korrekturen: Natürlich ist das Geld AUCH für den Spendensammler. Respektiv: Der hat selbstverständlich einen Lohn – sogar umso mehr, wenn er besonders viele Spender findet (früher, als noch viel mehr Leute mitgemacht haben, konnte man als “Wohltätigkeits-Strassenräuber” (Englisch: “charity muggers”) auf Monatslöhne von 12 000 Mark kommen. Die Schweizer “Strassenspendensammel-Firma” Corris (ja, die Spendensammler sind meistens NICHT von den Hilfsorganisationen selbst) verlangt z.B. vom WWF oder Amnesty International, für die sie unter anderem unterwegs ist, pro Sammler und Tag 850 Franken (ca. 720 Euro)!!! Auf den Einzelspender heruntergerrechnet entspricht das heute (den ersten) zwei bis drei Jahresspenden, die von solchen “Fundraising-Firmen” quasi “abgezweigt” werden (natürlich verdienen deren Bosse noch viel mehr als die Sammler) – auch in Deutschland, Österreich, etc. UNICEF ist in Deutschland übrigens auch bei einer Sammelfirma: Inakzeptabel. Warum der Staat nicht gegen solche Sammlungen vorgeht (bei denen der Spender glasklar irrgeführt wird, da ja eine falsche Identität vorgekaukelt wird, was rechtlich gesehen Betrug darstellt)? Die Hilfsorganisationen haben ein riesiges Beziehungsnetz (bspw. ist Ex-Vizekanzler Franz Müntefering Präsident vom Arbeiter-Samariter-Bund, der auch mit Sammelfirmen kooperiert), das sie für ihre Zwecke missbrauchen, Stichwort: Lobbying. Weiteres auf meiner Website: http://www.kevinbrutschin.wordpress.com
Ehrenamtlicher Rettungsdienst? Diese Leute arbeiten zumindest teilweise für Agenturen auf Provisionsbasis. Der erste Jahresbeitrag von Neumitgliedern geht an die Agentur. Das gibt es schon seit über 20 Jahren. An der Hochschule für Fernsehen und Film München hat mal jemand einen dokumentarischen Kurzfilm über österreichische Studenten gedreht, die in Deutschland Spenden sammeln. Das Rettungskostüm wird da als Berufskleidung ausgegeben.