Im Alter von dreieinhalb Jahren war ich ein gefährliches Kind. Das klingt nach einer lustigen Anekdote, aber für eine Weile war es überhaupt nicht lustig, sondern bedrohlicher Ernst. Denn aus scheinbar heiterem Himmel begann ich damals, in meiner Kindergartengruppe Jüngere zu bedrohen, mit Holzstühlchen auf sie loszugehen, sie grob umzuwerfen. Was das mit den Anschlägen der letzten zwei Wochen zu tun hat? Eine ganze Menge – aber vorher muss ich noch eine Runde weiter ausholen.
Mein Glück als Kleinkind war, dass meine Mutter nicht mit Strenge und Sanktionen auf meinen kindlichen Terrorismus reagierte, sondern sich ihren eigenen Reim darauf machte, wo dieser Hass herkam. Offenbar hatte mich die Ankunft einer Halbschwester in der neuen Familie meines Vaters traumatisiert. Weil sie bei ihm lebte und ihn nicht nur an seltenen Wochenenden sah, so wie ich. Diese Wut und Eifersucht auf das unschuldige Baby ließ ich nun alle spüren, die kleiner waren als ich. Meine Mutter erzählt noch heute mit Dankbarkeit, dass vor allem zwei Menschen sie dabei unterstützt haben, meine Seele wieder ins Gleichgewicht zu bekommen. Ein rundgesichtiger, onkeliger Kinderpsychologe, an den ich einige vage Erinnerungen habe, aber auch die Leiterin meines Kindergartens. Die beschloss nämlich, mich nicht auszuschließen, nicht aus der Gruppe zu werfen. Sondern nahm das Risiko in Kauf, dass wirklich ein Kind zu Schaden kommen könnte und versprach, mich ganz besonders im Auge zu behalten. So verschwommen meine inneren Bilder von dieser Kindheitskrise sind, so gut kann ich mir vorstellen, wie wichtig das war, nicht fallen gelassen zu werden. Zu spüren: Du hast es gerade schwer mit dir, wir haben es auch schwer mit dir, aber du gehörst trotzdem dazu. Nach ein paar Monaten war der Spuk vorbei, für immer.
Die #anschläge2016 zeigen Globalisierung von ihrer dunklen Seite
Als ich in den letzten Tagen über die furchtbaren Attentate der jüngsten Zeit nachgedacht habe, diese Blutspur von Nizza bis Ansbach, da ist mir diese Episode aus meiner Kindheit wieder eingefallen. Denn natürlich ist da jetzt dieser Reflex, der mir auch aus dem Echoraum der sozialen Medien entgegenschallt: Wir müssen die abschieben, wir müssen die rauswerfen, wir müssen uns in Sicherheit bringen vor diesen unberechenbaren, menschlichen Zeitbomben. Ich kann diesen Reflex verstehen, ich würde mit meiner Familie, meinen Freunden auch lieber in einem Honigmelonen-Ponyhofland leben, in dem es nichts Bedrohliches gibt. Aber ich halte ihn weder für umsetzbar noch für die richtige Lösung. Denn was in den letzten ein, zwei Jahren so schrecklich nach Mitteleuropa schwappt in Form von Attentaten, das ist nichts weiter als die dunkle Seite der Globalisierung. Also eines Prozesses, den man durchaus kritisieren kann, der aber gar nicht mehr aufzuhalten ist in unseren vernetzten Zeiten. Noch wichtiger: Selbst wenn man könnte, wen genau sollte man denn ausschließen, abschieben, vorsorglich einsperren, und nach welchen Kriterien? Die meisten Terror- und Amok-Opfer der vergangenen Tage und Monate gehen ja nicht einmal auf das Konto von Menschen, die von außerhalb in unsere Gesellschaft hineingekommen sind. Das Grauenhafte, das Gewalttätige, das Rohe, das Beschädigte und Verzweifelte, das kommt ja genau so von Franzosen (in Nizza und Paris), Belgiern (in Brüssel) und Deutschen (in München). Menschen mit mehr oder weniger Migrationshintergrund, aber wer hat den nicht, jedenfalls, wenn man mal ein paar Generationen zurückgeht? Ausschließen ist erstens nicht praktikabel, zweitens schürt es nur noch weiteren Hass.
Aus den Timelines und Kneipengesprächen dieser Tage schallt auch mal wieder die Forderung, man sollte sich lieber mit den Opfern beschäftigen, statt auch noch nach Erklärungen für die Bluttaten zu suchen. Weil man damit ja eine gewisse Form von Verständnis für die Täter zeigt, oder nennen wir es Empathie. Ich kann auch solche Stimmen durchaus verstehen, vor allem von denjenigen, die tatsächlich in ihrem engeren Kreis ein Todes- oder Verletzungsopfer beweinen. Für die große Mehrheit, zu der auch ich gehöre, halte ich es aber für das einzig richtige, sogar sehr gründlich über die Täter nachzudenken. Denn wenn überhaupt etwas helfen kann, neue Bluttaten zu verhindern, dann das. Dabei bin ich anders als andere Blogger nicht der Meinung, dass unsere Gesellschaft versagt hat bei der Integration eines Jungen wie des Täters von Würzburg – das wäre auch ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich seit vergangenem Jahr aufopferungsvoll um Flüchtlinge kümmern, in Kleiderkammern aushelfen, Sprachkurse organisieren, mit großem persönlichem Einsatz ein Ankommen ermöglichen. Aber es gibt Traumata, die sitzen zu tief, Menschen sind unterschiedlich anfällig für radikales Gedankengut. Und auch wenn es natürlich einen Unterschied macht, ob wir von einem 3jährigen Kind reden oder von einem erwachsenen Mann, manchmal ist die vermeintliche Vernunft und Rationalität verdammt dünnes Eis. Das ist keine billige Entschuldigung der Täter, eher eine Frage: Gibt es denn irgend etwas, das wir tun können, damit Gewaltbereitschaft gar nicht erst entsteht?
#anschläge2016 und die Folgen: Es wird ein mühsamer Weg
Ich glaube, ja – auch wenn es ein langer und mühsamer Weg wird und auch er keine Garantieformel für den Weltfrieden mit sich bringt. Einen der schlüssigsten Gedanken und zugleich hoffnungsvollsten Ansätze habe ich vor einigen Monaten in einem Buch mit dem Titel „Die gekränkte Gesellschaft“ gefunden, geschrieben von der Philosophin und Lebensberaterin Barbara Strohschein. Ihre These lautet: Nicht jeder Mensch, der in seinem Leben gekränkt wird, wird dadurch gewalttätig – aber umgekehrt geht jeder Gewalttat eine Kränkung voraus. Ob es die Erkenntnis ist, dass der ferne Vater das neue Baby vielleicht lieber hat, oder die Erfahrung, nicht willkommen zu sein, angefeindet zu werden, sich mit der eigenen Erfahrung und Berufsausbildung buchstäblich nichts kaufen zu können. Vielleicht ist es nur ein kleines Puzzlestück zur Lösung eines hochkomplizieren Problems, aber wenigstens eines, das jeder einzelne in seinem Alltagsleben selbst beitragen kann. Statt uns die Köpfe bei der unlösbaren Aufgabe zu zerbrechen, wie wir Gewalttäter loswerden können, ehe sie zuschlagen können, sollten wir uns lieber noch mehr um Respekt und Empathie bemühen. Allen gegenüber. Denn es gibt nicht „die“ und „uns“. Es gibt nur eine einzige Gruppe. Und das sind wir.
Danke, liebe Gisela! Wir sind ja eigentlich ein völlig unpolitisches Blog, aber dieser Tage bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen und um die eigene Haltung zu ringen. Vielleicht das einzig Gute an der besorgniserregenden Weltlage. Lieben Gruß, Verena
Liebe Verena,
verfolge seit einiger Zeit euren Blog. Freue mich über deinen Beitrag, denn ich denke ähnlich. Schön, dass du dies offen aussprichst.
Viel Erfolg und liebe Grüße, GG