„Und was machst du so?“, fragte ich meine Freundin. Das war Montag, an diesem ersten Sonnennachmittag, als winterbleiche Hamburger Gestalten aus ihren Wohnungen und Büros quollen, ins Frühlingslicht blinzelten, sich unschlüssig in Straßencafés niederließen: So viel Welt, so viel Wärme, und alles für uns? Auch die Kellner ließen auf sich warten, waren vermutlich ähnlich überwältigt nach Dauerniesel und Märzwinter. Dafür lief eben jene Freundin an mir vorbei auf unserem gemeinsamen Alltagsparcours durch Ottensen, und hatte sich für einen Moment zu mir gesetzt.
„Was ich so mache?“ gab sie zurück und warf mir einen dieser leicht schläfrigen Blicke aus ihren grünen Augen zu. Ich kannte diesen Blick, sie hatte ihn schon als Kind.
Es ist eine dieser seltsamen Launen des Zufalls, die uns vor ein paar Jahren nicht nur beide unabhängig voneinander in dieselbe Stadt am anderen Ende Deutschlands katapultiert hat, sondern sogar ins selbe Wohnviertel. Auf der Suche nach einem Parkplatz lande ich manchmal in der Seitenstraße, in der sie lebt. Dann denke ich an sie und an früher. Als wir acht und zehn waren, haben wir mal ein Theaterstück erdacht, in dem wir dann ein Liebespaar aus dem wildem Westen mimten. Schon deshalb, weil Jungen in dem Alter lieber tot umfallen würden, als auf der Bühne ein Mädchen zu umarmen. Außerdem war sie damals einen Kopf größer als ich, sie ist es bis heute. Also spielte sie den gutaussehenden Trapper Paul und ich die verfolgte Unschuld Mary.
Seitdem standen wir uns nie mehr so nah wie damals auf der Bühne. Und obwohl uns eben jener Zufall nun wieder zusammengebracht hat, als wären wir zwei Würfel aus einem Würfelbecher, die nebeneinander zu liegen kommen, weiß ich nicht sehr viel über sie. Eigentlich nur, dass sich ihr Leben sehr von meinem unterscheidet. Keine Kinder, Single. Beruf? Als junges Mädchen hat sie eine handwerkliche Ausbildung abgeschlossen, was danach kam, habe ich nie gefragt. Wenn wir auf der Straße aneinander vorbeilaufen, nicken wir uns zu und versichern pantomimisch, dass wir uns nun wirklich bald mal anrufen werden. Was wir nie tun. Mit Sicherheit nicht aus bösem Willen. Trotzdem würde ich sie als meine Freundin bezeichnen, was sonst. Schon, weil sie einer der wenigen Menschen ist, der mich noch aus meiner Kindheit in Freiburg kennt.
Sinnsuche: Wenn das Machen sogar das Haben übertönt
Sie ließ die Lippen leicht offen stehen, genau so, wie sie es als Zwölfjährige getan hatte, wenn sie nachdachte. Dann sagte sie zu mir: „Ich mach eigentlich gar nichts. Ich bin eher mit dem Sein beschäftigt.“ Das fand ich einen ganz schön starken Satz.
Wieder stiegen Erinnerungen an die Oberfläche meines Bewusstseins, wie Luftblasen auf dem Wasserspiegel eines Teiches. „Haben oder Sein“, so lautete der Titel, fette schwarze Serifenbuchstaben auf grünem – oder blauem? – Grund. Das Buch von Erich Fromm stand in allen Bücherwänden in den Wohnzimmern, in denen wir uns bewegten, auf Polstergarnituren herumlümmelten, Versandhauskataloge durchblätterten, der trägen Zeit beim Verstreichen zusahen. Meine Mutter hatte es, die meiner Freundin mit Sicherheit auch. Den Erwachsenen schien Fromms Frage entscheidend für die Zukunft der Menschheit, uns Töchtern nicht. Das Haben war kein großes Thema für unsere eigene Sinnsuche, vielleicht von naheliegenden Kleinigkeiten abgesehen: der neuen LP von Fleetwood Mac, den knöchelhohen Allrounder-Turnschuhen. Und das pure Sein, das war kein Sehnsuchtsort, keine Utopie, das hatten wir im Überfluss.
Es war die Zeit vor dem Internet, vor Pushbenachrichtungen und Handys, vor Multitasking und mobiler Arbeit. Nie waren Nachmittage länger als 1982. Wie gut ich mich an diese seltsame Mischung aus Langeweile und unklarer Erwartung erinnere, die jederzeit in etwas umschlagen konnte: Plötzlich schrieb man ein sentimentales Gedicht, oder griff zum spinatgrünen Telefonhörer, oder entwarf eine Hose, die man dann doch nicht nähte. Das Sein und das Nichts, sie waren bei uns allen zu Hause. Und heute?
Einfach sein ist keine Idylle – aber trotzdem befreiend
Ich glaube nicht, dass das reine Sein die pure Idylle ist. Auch nicht im Leben meiner alten Freundin. Auf der Straßencafébank erzählte sie mir von verschiedenen Krankheiten, davon, wie froh sie war, dass ihre Familie sie unterstützte. Ich wollte nicht weiter in sie dringen, aber so viel verstand ich: Es ist keine rein freiwillige Entscheidung, dass es in ihrem Leben eher um Sein geht als um Haben. Oder um Machen. Trotzdem: Dieser Satz, hineingesprochen in den blauen Nachmittag, machte mich auf eine unbestimmte Weise sehnsüchtig. Weil darin eine ganz besondere Art von Freiheit steckt. Weil der Satz auch heißt: Allein dass wir da sind, dass wir existieren, macht uns wertvoll. Sein stiftet Sinn. Was bleibt von uns übrig, wenn wir weder zeigen können, was wir haben – Stichwort: mein Haus, mein Auto, mein Boot – , noch uns wortreich darüber auslassen können, was wir alles so tun? Brot backen, Abteilungen leiten, Elternabende organisieren, Romane schreiben – auch das letztlich nur Versuche, unser Leben mit Sinn aufzuladen. Vielleicht ist das gar nicht nötig. Jedenfalls nicht immer und überall.
Irgendwann stand tatsächlich ein Kellner mit gezücktem Block vor uns. „Und?“, fragte er, „nur Sonne, oder auch Getränke?“ Es dauerte eine ganze Weile, bis ich darauf eine Antwort fand.
Mich überkommt häufig das lähmende Gefühl, dass das Leben nur eine immerwährende Beschäftigungstherapie ist. Mal besser, mal schlechter. Kein schöner Gedanke!