Dienstagnachmittag, auf der Straße zwischen Taormina und Catania, in einem sizilianischen Flughafenbus. Ein Moment, an dem so ziemlich alles falsch ist. Erstens, dass mein Magen knurrt, weil ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe. Hunger! In Italien! Zweitens: mein weißes Wallegewand, ein Zwitter aus Nachthemd und Brautkleid, das ich unter normalen Umständen nie und nimmer anziehen würde. Und drittens, dass ich schon wieder auf Autobahn-Gestrüpp starre. Statt mit Notizbuch und Cappuccino auf einer Aussichtsterrasse über dem tiefblauen Meer zu sitzen und mir letzte Gedanken über meinen Roman zu machen, der auf dieser Insel spielt.
Viertens und füchterlichstens: Der Busfahrer dreht das Radio auf. Und was läuft? „Life is live.“ Nanaa-nana-Naa. Das kann sich kein Schwein ausdenken, nicht mal ein Romanautor. Die Engländer kennen ein Sprichwort für solche Situationen: „To add insult to injury“ – Schmerz plus Kränkung. Was ich noch nicht weiß: Das hier ist noch nicht das Ende vom Lied.
Reisen aus der Hölle: Dabei fing es so himmlisch an!
Aber von vorne. Eigentlich war diese Reise nämlich anders geplant. Als eine Mischung aus finaler Recherche und Selbstbelohnung, nachdem ich die Rohfassung meines neuen Buches fertig hatte. Ich hatte mir das so gedacht: für ein paar Tage in ein schnuckeliges Guesthouse einmieten, auf dem Balkon sitzen, Text überarbeiten, zwischendrin durch die Straßen schlendern und dabei alles mitnehmen, was mich so anweht. Gerüche, Geräusche, Bilder.
Ich hatte mich selbst zu der Tatsache beglückwünscht, dass ich mir so einen schönen Schauplatz für meine Geschichte ausgedacht habe, und online wie offline immer den gleichen Witz gemacht: Das war’s mit Sizilien, mein nächster Roman spielt dann in Bad Bramstedt und Finsterwalde.
Vielleicht war das der Fehler, und das Universum hat sich für meine Arroganz gegenüber deutschen Kleinstädten gerächt. Denn schon am Abfluggate in Hamburg, am Sonntag vor zehn Tagen, schwante mir: Das wird nicht der Trip, den du dir erträumt hast. Spätestens in dem Moment, in dem die Durchsage über den Lautsprecher kam: Keine Landeerlaubnis in Amsterdam wegen Nebels, ob Anschlussflüge erreicht werden, ist ungewiss.
Am Wahltag einen Kaffee mit Angela, dann weiter nach Catania
Diese erste Hürde nahm ich noch verhältnismäßig sportlich. Meine Sitznachbarin im Flugzeug musste ebenfalls weiter, sogar bis Peru, und wir schlossen Wetten ab, wer wie schnell wie weit kommen würde und tauschten schließlich Facebook-Kontakte aus. In der Schlange am Transfer-Desk in Amsterdam lernte ich dann Angela kennen, die am gleichen Tag noch nach Genua wollte. Wir beglückwünschten uns schließlich gegenseitig zu unseren erfolgreichen Umbuchungen und hauten zusammen unsere Gratis-Getränkebons auf den Kopf. Kaffee mit Angela am Wahlsonntag – das kann nicht jeder von sich behaupten. Später am Nachmittag ging es für mich weiter nach Rom, von dort nach Catania. So weit, so gut. Aber nicht gut genug.
Denn nicht nur, dass ich acht Stunden nach meiner geplanten Ankunftszeit am Gepäckband stand – von den Koffern, die darauf ihre Runden drehten, gehörte keiner mir. Der übermüdete Mann im Fundbüro war keine große Hilfe, er hatte nicht mal einen Tipp, wo ich kurz vor Mitternacht noch eine Ersatzzahnbürste herbekommen konnte. Die, immerhin, bekam ich dann im Flughafenhotel geschenkt, wo ich für die erste Nacht eincheckte. Denn der letzte Bus nach Taormina war natürlich längst weg, und die Taxifahrt etwa um den Faktor 20 teurer. Außerdem hatte ich noch immer die leise Hoffnung, der Koffer könnte am nächsten Morgen auftauchen.
Tat er nicht. Und auch im Fundbüro war niemand, jedenfalls nicht zur offiziellen Öffnungszeit morgens um neun. Auch jetzt hielt sich meine Laune noch in Grenzen. Mein Plan: Weiterfahren und in Taormina ein paar simple Ersatzklamotten kaufen. Meine rochen mittlerweile etwas streng, weil für zehn Grad kältere Temperaturen gedacht. Dann in Ruhe auf die Kofferlieferung warten, während ich mit dem Laptop Gerüche und Geräusche – na ja, das sagte ich ja bereits.
Sauteuer oder schweinehässlich? Das Problem mit den Ersatzklamotten
Drei Stunden später wusste ich mehr. Man kann in einem bei Kreuzfahr-Touristen und sonstigem Jetset-Volk beliebten Ort so ziemlich alles kaufen. Außer einer simplen Shorts und einem simplen Shirt. Stattdessen: Bommelmützen und Bomberjacken aus dem Designershop (Herbstkollektion! Könnte ja Minusgrade haben!), oder quietschbunte Strandtuniken mit Glitzer und Korallendruck. Sauteuer und sauwarm versus schweinehässlich. Bei dieser Auswahl fiel der Kompromiss nicht schwer: ein leicht unförmiges Leinenkleid in Weiß war noch das kleinste Übel. Dazu ein Paar Espadrilles in quietschtürkis. Gab nichts anders in meiner Größe. Egal, ich wollte ja nicht feurige Italiener angraben, sondern arbeiten.
Immerhin: Noch am gleichen Abend bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Auf italienisch, allerdings nicht feurig. Immerhin verstand ich so viel, dass mein Koffer gefunden worden war. Das war ja schon mal was. Ich ging ohne Nachthemd ins Bett, schlappte auch am nächsten Morgen wieder in Wallawallweiß zum Frühstück in dem wirklich sehr netten Guesthouse und freute mich, dass die Männer auf den historischen Aktfotografien in meinem Zimmer mich nicht in meinem seltsamen Aufzug sehen konnten.
Dann verzog ich mich zum Arbeiten auf den Balkon und wartete auf einen Kurier. Als der um zwei immer noch nicht da war, beschloss ich, mal ein wenig herumzutelefonieren. Und anschließend etwas essen zu gehen.
Das hätte ich nicht tun sollen. Zumindest nicht in dieser Reihenfolge. Nachdem ich nämlich eine Stunde lang sowohl so ziemlich jede Hotline einer großen niederländischen als auch einer großen italienischen Fluggesellschaft an der Strippe gehabt hatte, gab man mir endlich die richtige Nummer. Nur leider sprach die Dame am anderen Ende nur so viel englisch, um mir sagen zu können, dass sie kein englisch sprach.
“Stellen Sie doch einen Antrag!”
Eine sehr nette Mitarbeiterin aus dem Guesthouse übersetzte, folgendes kristallisierte sich heraus: Ja, der Koffer stand im Flughafen in Catania. Nein, man werde ihn mir nicht liefern. Denn erstens hätte ich gesagt, dass ich selbst nochmal am Schalter vorbeischauen wollte. Und zweitens würde sich die Lieferung ja kaum lohnen. Weil mein Rückflug ja bereits für den übernächsten Tag geplant war.
Wenn ich trotzdem darauf bestünde? Dann müsste ich einen Antrag stellen. Der würde 24 Stunden Bearbeitungszeit kosten. Eigentlich hätte ich so eine Reaktion nicht in Italien erwarte. Eher in Deutschland. Möglicherweise in Bad Bramstedt.
So kam es also, dass ich hungrig den nächsten Flughafenbus bestieg, und zu Life is Live-Klängen nach Catania zurückschaukeln musste. 90 Minuten one way. Immerhin: Der Bus war pünktlich. Vor mir am Schalter des Fundbüros stand ein nicht minder wütendes französisches Rentnerpaar, das genau das entgegengesetzte Problem hatte wie ich: Die waren gekommen um ihren Koffer mitzunehmen. Und denen wurde gesagt, der sei leider schon beim Kurierunternehmer und werde in ihr Hotel gebracht. Innerhalb der nächsten 24 Stunden jedenfalls. Vielleicht auch 48. Da könne man nichts machen. Ich, immerhin, durfte meinen Koffer nun aus dem Tresor entnehmen. Sie blickten mir sehnsüchtig nach.
Es wurde Mittwoch, und ich dachte, nun hätte ich das Schlimmste hinter mir. Auch Reisen aus der Hölle können nicht ewig dauern. Ich zog mich nun alle zwei Stunden um, weil ich plötzlich ganz viele frische Klamotten hatte. Ich ging mittags und abends essen und saß zwischendrin stundenlang am Laptop, denn nun hatte ich ja endlich Zeit für unverbaute Inspiration. Ich war in Hochstimmung und schickte meiner neuen Bekannten vom Hamburg-Amsterdam-Flug Fotos vom Mittelmeer. Sie schickte den Himmel über Lima zurück.
Donnerstagmorgen, neues Spiel, neues Glück. Die Strecke diesmal: Catania-Rom-Amsterdam-Hamburg. Sicherheitshalber war ich gleich drei Stunden vorher am Flughafen. Die freundliche Lady hinter dem Check-in-Counter runzelte dennoch die Stirn: „Komisch, ich kann nur die Bordkarte für das erste Segment ihres Fluges ausdrucken. Die anderen müssen Sie sich dann in Rom holen.“ Bei einer Transferzeit von gerade mal einer Stunde? „Keine Sorge, das klappt schon.“
Tat es dann auch. Weil ich mich in Rom-Fiumicino gnadenlos vordrängelte, während die meisten schon das nächste Flugzeug bestiegen: „Sorry, I have no boarding pass.“ Der nach Amsterdam war dann auch schnell ausgestellt. Nur mit der Bordkarte für die letzte Strecke nach Hamburg, mit der stimmte etwas nicht. Warum stand auf der kein Sitzplatz? „Sie sind auf Standby. Erkunden Sie sich in Amsterdam, wie Ihr Status ist.“
Ein schönes Hotel? Was für ein schönes Hotel?
Drei Stunden und eine Zitterpartie später dachte ich, ich hätte nun wirklich alles mitgenommen, was man auf Flugreisen so erleben kann. Mit fast einer dreiviertel Stunde Verspätung landete ich in Amsterdam, sah aus dem Augenwinkel auf der Anzeigentafel, dass immerhin das Flugzeug nach Hamburg auch etwas später starten sollte, raste im Schweinsgalopp von einem zum anderen Terminal und brach keuchend vor zwei Stewardessen zusammen, die gerade das Boarding abwickelten.
Happy End? „Oh, auf Sie haben wir schon gewartet“ sagte die eine mit Blick auf meine Bordkarte und zog ihre Stirn in mütterlicher Besorgnis zusammen. „Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Flug überbucht ist und wir Sie nicht mitnehmen können.“
Schweiß tropfte mir in den Kragen. Eine lange Schlange defilierte an mir vorbei. Ich blieb stehen. Als einzige. Mein Sohn weinte am Telefon. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie bekommen ein schönes Hotel. Und wir stellen Ihnen gleich die Bordkarte für morgen früh aus. Seien Sie bitte um 4.30 h am Gate.“
„Und wenn morgen früh wieder Nebel ist?“
„Ja. Das kann natürlich passieren.“
Da musste ich dann einmal kurz und kräftig mit der flachen Hand auf den Counter schlagen. Und einmal aufschreien. Freundlich wurde ich ermahnt, ich solle bitte keine Aggression zeigen. Zwei Stunden später besaß ich eine weitere Zahnbürste und ein Dreierpack Unterhosen. Immerhin: Für solche Fälle ist am Amsterdamer Flughafen gesorgt. Im Hotelrestaurant saß ich zwischen dicken Chinesen und trank ein großes Bier. Ein sehr großes.
Morgens um halb acht am Freitag, über rosa angestrahlten Wolken irgendwo zwischen Dortmund und Bremen, fasste ich einen neuen Plan. Wenn mein Sizilien-Roman fertig ist, beginne ich sofort den nächsten. Er spielt weder in Bad Bramstedt noch in Finsterwalde, sondern ausschließlich im Transitbereich verschiedener Flughäfen. Ein Koffer wird auch eine unrühmliche Rolle spielen. Ich schätze das Manuskript auf etwa 800 Seiten.
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