„Wie leicht man glauben konnte, seine Eltern zu kennen und dabei vergaß, dass auch sie einmal jung und verzweifelt gewesen waren. Selbst wenn sie damit viel früher hatten aufhören müssen, weil wir dann kamen. Was nicht die Verzweiflung beendet hatte, wohl aber das, was wir unter Jungsein verstanden.“
Die das schreibt, heißt Lucy Fricke, ist 44 Jahre alt und lebt als Autorin in Berlin. Die das sagt, in Lucy Frickes neuem Roman „Töchter“, heißt Betty, ist ungefähr im selben Alter und befindet sich gerade mittendrin in einem irren, poetischen, abgefahrenen, schwarzhumorigen und tieftraurigen Road Movie. Gemeinsam mit ihrer Freundin Martha und deren alten, todkranken Vater ist sie auf dem Weg in die Schweiz, wo der Vater sich durch legale Sterbehilfe ins Jenseits befördern lassen möchte. Glauben jedenfalls Betty und Martha, ehe der alte Mann auf halber Strecke mit der Wahrheit um die Ecke kommt: Eigentlich will er noch gar nicht sterben, sondern vorher eine alte Liebe wieder treffen. Eine Halbitalienerin, die vor über 40 Jahren auf einer ähnlichen Reise mit einem Goldkettchen tragenden Stenz durchgebrannt ist. Und so vermischen sich zwischen Hannover und dem Latium die alten Geschichten der Väter und der Mütter mit den aktuellen der beiden 40-something-Freundinnen. Die eine versucht verzweifelt, ein Last-minute-Baby zu bekommen, und hält sich beim Absturztrinken nach den ständigen Fehlgeburten an die teuersten Spirituosen; die andere, Dauer-Single, hält sich sowieso nur mit Hilfe von Antidepressiva aufrecht.
Mutter-Tochter-Bücher, reloaded: mit genügend Abstand sieht man besser
Schwere Geschichten, mit Leichtigkeit und einer Prise Wahnsinn erzählt, aber das ist nicht der einzige Grund, warum Lucy Frickes neuer Roman mir unter den Frühjahrs-Neuerscheinungen 2018 so aufgefallen ist: Es scheint, dass eine neue Generation von Autorinnen sich gerade daran macht, nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch die ihrer Eltern aufzuarbeiten. Völlig unabhängig voneinander, gleichzeitig zwingend: Wenn man zu alt ist für lustige Coming-of-age-Romane aus den Achtzigern und zu jung für große Lebensrückblicksgeschichten, dann ist wohl die Zeit gekommen, sich den eigenen Eltern literarisch zu nähern. Mit Mutter-Tochter-Romanen und Vater-Tochter-Erzählungen. Natürlich nicht eins zu eins, sondern in kunstvoller Fiktion.
Vielleicht, weil uns mittlerweile nicht nur die Nazi- und Kriegszeit, sondern auch die Fünfziger und Sechziger so weit weg erscheinen, dass man einen neuen, frischen Blick darauf werfen mag. Genau so, wie es die zu Recht hochgelobte, neue Staffel der ZDF-“Ku’damm”-Serie (noch bis März 2019 in der Mediathek zu sehen) kürzlich getan hat und die Frage aufwirft: Wie sind unsere Mütter und Väter eigentlich aufgewachsen in einer Zeit, in der eine ganze Nation damit beschäftigt war, eigene Schuld und Scham aus Kriegszeiten zu verdrängen? Als man sich wie zur Ersatzbefriedigung an moralischen Fragen – bloß kein Sex vor der Ehe, schon gar keine Schwangerschaft! – aufgerieben hat und in rührseligen Heimatfilmen heile Welt spielte? Unsere Mütter wurden groß in einer Zeit, in der Frauen wieder ganz klein gemacht wurden, in die Häuslichkeit zurückgedrängt, von Macht, Einfluss und Selbstbestimmung ferngehalten.
Vatersehnsucht und Vertrauensverlust
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille: Wer heute zwischen 40 und 50 ist, hat in seiner Kindheit auch erlebt – am eigenen Leibe oder um sich herum – , was die schließlich neu errungene Freiheit auch an Unsicherheit und Bindungslosigkeit mit sich brachte. In Lucy Frickes Roman geht es nicht zuletzt um die Auseinandersetzung mit einer Mutter, die viele Beziehungen geführt und ebenso viele beendet hat. Ohne jemals einen Gedanken darauf zu verschwenden, was das mit ihrer Tochter gemacht hat. Denn für die bedeutete das: immer wieder neues Vertrauen fassen zu einem Mann, der sich als Vaterfigur anbietet – und von jetzt auf nachher in diesem Vertrauen enttäuscht zu werden.
Eine ähnlich gelagerte Geschichte von Spurensuche erzählt in diesem Frühjahr Kristine Bilkau aus Hamburg, die vor zwei Jahren mit dem Gesellschaftsroman „Die Glücklichen“ debütierte – der hat uns damals auch schon gefallen. Der Inhalt ihres Neulings: Noch eine Frau von Mitte 40, mit Ehemann und einer Tochter kurz vor dem Absprung aus dem Elternhaus, sortiert den Nachlass ihrer verstorbenen Mutter und spürt dabei ihrer Geschichte und einer lang vergangenen Beziehung nach. Anfang der Sechziger Jahre hat Mutter Antonia einen Mann namens Edgar geliebt und nie vergessen – eben „Eine Liebe, in Gedanken“, so der Titel des Romans. Mit viel detailreichem Zeitkolorit (Pernod! Jazzschallplatten! Eiskaffee!) lässt die Erzählerin eine zum Scheitern verurteilte Romanze aus der späten Wirtschaftswunderzeit wieder auferstehen: die aufmüpfige Antonia und der sensible Edgar, die von einer Freiheit träumen, für die sie aber noch keine Form und Vorstellung haben, die hinauswollen aus den vorgezeichneten Lebensläufen dieser Zeit aber nicht wissen, wie die Alternative aussehen könnte. Auch hier spielt wieder eine Vatersuche mit hinein: der leibliche Vater der Erzählerin ist früh wieder aus dem Leben der Mutter verschwunden, mehr Übergangsmann und Reaktion auf die frühere Enttäuschung als echte Liebe, und sein Nachfolger ist ebenfalls nicht geblieben. Vielleicht, weil kein neues Gefühl im Schatten des Alten gedeihen konnte.
Das sind Geschichten, die man so noch nicht gelesen hat, neue Muster, frische Blicke auf das, was uns vertraut scheint und doch fern liegt. Schön zu lesen – und vielleicht auch ein Anlass, mit den eigenen Eltern ins Gespräch zu kommen. Diesen Eltern, die auch mal jung und verzweifelt waren, oder jung und glücklich. Vielleicht muss man selbst die Vierzig überschreiten, um das zu verstehen. Schön, wenn Eltern dann noch da sind und Antworten geben können auf Fragen, die wir vorher nie gestellt haben.