Gestern Nachmittag, gegen 17 Uhr, musste ich an meine Großmutter denken. Da war ich gerade im Park vorbeigeradelt, um meiner Zwölfjährigen und ihrer Freundin ein paar Euro für Eis und Limo zu bringen. Um mich herum auf der großen Wiese Eltern mit Babys, die Melonenstückchen lutschten, ältere Kinder, die sich an der Pumpstation bespritzten, Liebespaare im Schatten großer Eichen. Das pralle Leben, als hätten die hochsommerlichen Temperaturen eine riesige Samenkapsel mitten in einer noch immer wintermüden Stadt platzen lassen. Lauter Gern-Großstädter wie ich, die vielleicht auch ihre winzigen Straßenbalkone haben – meiner misst einen Meter mal 2,45 und lässt gerade mal Platz für zwei Menschen und eine Flasche kalten Weißwein – , aber am liebsten dort sind, wo das Leben ist: auf der Wiese, im Straßencafé, am Flussufer.
Was das mit meiner Großmutter zu tun hat? Nun: Ich weiß noch, wie ich als Teenager in Freiburg eines Nachmittags etwas später nach Hause kam und beiläufig erzählte, dass ich noch eine Weile draußen gesessen und gelesen hatte, auf einer Bank an der Dreisam. Und wie sie mich völlig verständnislos ansah, als hätte ich ihr eben eröffnet, ich wolle aber morgen das Dudelsackspielen lernen. Was ich denn da gewollt hätte statt in unserem gepflegten Garten? Ich stammelte etwas von spontanen Begegnungen, von Leuten, die man dort vielleicht traf oder zumindest beobachten konnte, und ich sah gleichzeitig, wie in ihrem Kopf ein Film ablief, mit einem schicksalsschwangeren Titel wie „In schlechten Kreisen.“
Caramba! Warum wir alle Südländer werden
Vieles hat sich in Deutschland verändert, seitdem wir 40-somethings Teenager waren, manches zum Guten und manches zum Schlechten, aber eines ist definitiv eine positive Nachricht: Wir sind alle ein bisschen südländischer geworden. In unseren Interrail-Jahren fanden wir es noch exotisch und ein bisschen wild, wie unsere italienischen Altersgenossen auf der Spanischen Treppe in Rom herumlungerten und die Spanier nachts zwischen Bars in verwinkelten Gässchen Stehparty feierten. Weil das Leben in Deutschland sich eher drinnen abspielte, oder zumindest in abgezirkelten Zonen: Garten, Terrasse, möglicherweise noch im Außenbereich eines Eiscafés. Auf der Straße abhängen, das taten in meiner Heimatstadt eigentlich nur die Punks am Bertoldsbrunnen.
Maisommer 2018: wie frisch verliebt und mit allem verbunden
Da wo ich jetzt wohne, in Hamburg, gibt es auch Punks, aber gerade in diesen warmen Frühsommernächten derzeit ist ab einer gewissen Uhrzeit manchmal kaum noch zu unterscheiden: Ist das jetzt einer von den Typen, die sonst vor dem Telekom-Laden sitzen und tagsüber nach Kleingeld fragen, oder ist das ein Werber mit Retro-Irokesenschnitt, der mit einem teuren Bier aus der Szenebar mitten auf dem Kopfsteinpflaster chillt? Hitzewallungen machen uns eben alle gleich, ob innerlich oder äußerlich. Morgens einen Tagesstartkaffee auf den Holzkisten vor dem „Mar y Sol“ trinken, nachmittags in der Grünanlage mit den Kindern Vokabeln lernen, abends grillen im Park, das ist heute normaler Alltag für meine Freunde und uns.
Bei diesem Wetter sowieso. Im Maisommer 2018 hat Hamburg für mich etwas von einer 24-7-Party, zu der man kommen und gehen kann, wie man will. Wo man immer jemanden trifft, den man kennt – jedenfalls im eigenen Wohnviertel – , und wo der Picknickkorb die Küche ersetzt. Das fühlt sich lebendig an, und wo keine Decke ist, kann einem auch nichts auf den Kopf fallen. Eine Leichtigkeit, die alles durchdringt: wie ich arbeite, wie ich denke, wie ich mich fühle.
In einem Interview hat die Philosophin und Autorin Rebekka Reinhardt einmal den Begriff „inter sein“ verwendet, und ich glaube, das gibt dieses Gefühl ganz gut wieder: den Eindruck, mit allen verbunden zu sein, und sei es durch einen flüchtigen Blick, ein Lächeln, eine Bemerkung in der Eisdielenschlange, ein wohltuender Zustand der Verwobenheit. Wie frisch verliebt sein in die ganze Stadt. Als wäre man in einem riesigen Garten, den man mit allen teilt. Hinter dem eigenen Jägerzaun geht das nicht – oder zumindest schwerer. Und wenn das lang angekündigte Gewitter endlich kommt? Dann wird man immerhin gemeinsam nass. Und singt im Chor im Regen. Halleluja!