Ah, der Herbst! Der wunderbare Leseherbst! Raschelndes Laub und raschelnde Buchseiten sind ein perfektes Duo in meinen Ohren. Ich habe es mir schon mal auf meinen großen roten Sofa bequem gemacht und mich durch einige Neuerscheinungen gewühlt – hier kommen meine Favoriten, für mich die drei besten Romane der Saison:
Leseherbst, die Erste: Caitlin Moran, All about a Girl
Sozialsiedlungs-Tristesse meets Rock’n Roll: eine Mischung, so britisch wie Toast mit Bohnen oder Lamm mit Pfefferminzsauce. Caitlin Moran, Kolumnistin der „Times“, setzt in ihrem Roman auf ein Rezept, wie man es auch aus englischen Filmen wie „Ganz oder gar nicht“ kennt, und das Ergebnis ist überdurchschnittlich genießbar. Denn die Autorin weiß ganz offensichtlich, wovon sie schreibt: Die Geschichte des Kleinstadtmädchens aus prekären Verhältnissen, das bei einer Londoner Musikzeitschrift als Kritikerin anheuert und plötzlich eine Mischung aus Bohème- und Jetsetleben führt, ist ganz offensichtlich ihre eigene.
Genau wie ihre Heldin Johanna wuchs Caitlin Moran, geboren 1975, in Wolverhampton auf und schrieb mit 16 erste Artikel für den „Melody Maker“. Natürlich betont Moran wortreich, dass ihre eigenen Eltern nicht halb so schräg sind wie die Romaneltern und die Musiker, mit denen Johanna natürlich im Bett landet, tragen nicht ihre Klarnamen. Geschenkt. Seinen großen Charme entwickelt das Buch nämlich nicht unbedingt über Rätselraten, welcher echte Britpopper hinter welcher Figur steckt, sondern über die kleinen Dinge, mal komisch, mal bedrückend, die man sich nicht ausdenken kann. Oder hat schon mal jemand eine Musikkritikerin erlebt, die sich CDs für 20 Pence in der Gemeindebücherei ausleiht, weil ihr nicht klar ist, dass sie sich die Platten gratis von den Plattenfirmen schicken lassen kann? Gern begleitet man die tollpatschige, schwergewichtige, begeisterungsfähige Heldin auf ihre Streifzüge, die zugleich eine schöne Zeitreise sind. Welcher 40-something erinnert sich nicht gerne an die eigene Partyzeit Anfang der Neunziger Jahre? Einziges Manko für mich: Die Geschichte ist sehr gradlinig erzählt – beinahe zu gradlinig. Viele skurrile Szenen, aber fast keine überraschenden Wendungen oder die Art von Rückschlägen, die sonst typischerweise zu Coming-of-age-Büchern gehören. Vielleicht also kein ganz großer Smash-Hit – aber absolut tanzbar.
Leseherbst, die Zweite: Eve Harris, Die Hochzeit der Chani Kaufman
Und noch eine britische 40-something-Autorin, die ganz genau weiß, wovon sie erzählt: Eve Harris wurde 1973 als Tochter polnisch-israelischer Eltern geboren und arbeitete als Lehrerin, unter anderem an einer jüdisch-orthodoxen Mädchenschule. Im Mileu der orthodoxen Londoner Juden spielt auch ihr Roman, der im Jahr 2008 angesiedelt ist, aber sich liest, als wäre es eine Geschichte aus einem osteuropäischen „Schtetl“ im 19. Jahrhundert: Ehen werden von einer professionellen Kupplerin im Auftrag der Eltern arrangiert, acht und mehr Kinder werden als Gottesgeschenk betrachtet, und das Leben ist vor allem eine Abfolge frommer Rituale. Sex vor der Hochzeitsnacht? Jahwe bewahre – eine gute jüdische Braut weiß nicht mal genau, was sie da eigentlich erwartet.
Aber die Romanfiguren leben eben nicht in einer anderen Zeit und Welt, sondern mitten in einer der aufregendsten Großstädte der Welt im 21. Jahrhundert – und natürlich stürzt sie das in tiefe Konflikte rund um Liebe, Lust und Selbstbestimmung. Im Zentrum des Romans stehen zwei starke und eigenwillige Frauen, die jede einen anderen Weg findet, mit diesen Widersprüchen fertig zu werden: Chani, eine 19jährige Braut, die in der Ehe vor allem eine Möglichkeit sieht, dem engen Elternhaus zu entkommen, und Rivka, 44 Jahre alt und Frau des Rabbis, der über die Jahre immer konservativer und sittenstrenger geworden ist. Das liest sich extrem spannend und kurzweilig, oft sehr exotisch, an vielen Stellen auch sehr vertraut (Schwiegermonster und Midlife-Crisis sind ja keine jüdische Spezialität). Und für mich als deutsche Leserin, für die beim Thema Judentum natürlich immer an Tod und Vernichtung denkt, war diese Geschichte aus dem prallen jüdischen Leben ein schönes Leseerlebnis.
Leseherbst, die Dritte: Sabine Rennefanz, Die Mutter meiner Mutter
Ist es ein Roman? Ein Sachbuch? Die preisgekrönte Berliner Journalistin Sabine Rennefanz, Jahrgang 1974, begibt sich auf eine höchst persönliche 250-Seiten-Reise dahin, wo es wehtut. In die Vergangenheit ihrer Familie, und zu einem verbrecherischen Geheimnis, das ihren Blick völlig verändert – auf ihre Mutter, ihre Großeltern und auf sich selbst. Denn die Ehe der Großeltern, so ergeben Recherchen, wurde unter Zwang geschlossen: Er, ein verwitweter Kriegsheimkehrer, hatte sie, das junge Flüchtlingsmädchen, vergewaltigt, und dabei war sie schwanger geworden. Das erklärt im Nachhinein vieles, das Sabine Rennefanz vorher falsch eingeordnet hat: Das depressive Verhalten der Großmutter, die spürbare Furcht des Großvaters, aber auch eigene Bindungsängste und Geschwisterzwist.
Es ist eine Geschichte, die tief eindringt in das Lebensgefühl der Nachkriegszeit. Eine rohe Epoche voller Gewalt, in der traumatisierte Opfer und Nazi-Täter irgendwie versuchten, mit Schuld, Schmerz und Kränkung fertig zu werden. Deswegen ist sie nicht nur sehr berührend, sondern wichtig und hat viel Allgemeingültigkeit: Natürlich hat nicht jede Familie eine derart monströse Leiche im Keller wie die der Autorin, aber das psychische Erbe dieser Zeit tragen wir alle miteinander. Ob wir nun in einer westdeutschen Großstadt aufgewachsen sind wie ich oder in der ländlichen DDR wie Sabine Rennefanz – in dieser schwierigen Herkunft sind wir uns nah. Ein Buch, das nicht nur zum Nachdenken bringen kann, sondern auch zum Reden: Irgendwann werden wir in unseren Familien nämlich keine Zeitzeugen mehr haben, die uns aus erster Hand erzählen können, wie sie diese Epoche erlebt haben.
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