Mit 15 trug Verena Carl Kleidergröße 38 und brach in der Umkleidekabine in Tränen aus. Mit 45 geht sie liebend gerne Hosen in Größe 42 shoppen. Was ist passiert – mit ihr und der Welt drum herum?
Es gibt diese Sätze, die bleiben lange im Gedächtnis. Wärmen das Herz, oft über Jahrzehnte. „Soll ich dir eine Brezel vom Bäckerstand mitbringen?“ (Jens aus der 10b, 1985), „Ich hab dich auf die Gästeliste gesetzt“ (Frank, aufstrebender Bandleader 1995), „Meine Frau hätte gerne ein Zimmer mit Seeblick“ (Dierk, frischgebackener Ehemann, 2005). Kürzlich war es allerdings kein Kerl, der mir einen unvergesslichen Moment bescherte. Sondern eine Frau. „Nimm die Jeans lieber in Größe S“, sprach die blonde Verkäuferin einer Boutique im Hamburger Schanzenviertel und reichte mir eine apricotfarbene Röhre über die Schwingtür. „Aber normalerweise…“, wagte ich Widerspruch. „Glaub mir“, unterbrach sie mich im freundlich-autoritären Ton einer Erzieherin, die den Obstteller herumreicht, „ich weiß, was du brauchst.“
Auf dem Etikett der Hose stand „Please!“, und während ich mir halb amüsiert und halb irritiert das Wunderteil mit den schrägen Nähten anzog, dachte ich an früher. An die Zeit, in der ich 12, 13, 15 Jahre alt war und die Umkleidekabine der „Young Fashion“-Abteilung im Freiburger Kaufhaus Oberpaur am liebsten nur mit Harry-Potter-Unsichtbarkeitsumhang verlassen hätte, wäre der damals schon erfunden worden. Nicht, dass ich jemals wirklich dick war – aber das zählte nicht. Es war schlimm genug, nicht ganz so fohlenhaft dünn zu sein wie die Mehrheit meiner Klassenkameradinnen. Vor allem in meinen eigenen Augen. Jahrzehnte, ehe sich besorgte Mütter fragten, ob ihre Töchter durch GNTM-Dauerberieselung Essstörungen entwickeln könnten, waren schon wir eine Generation mit handfesten Wahrnehmungsproblemen. Es war nur noch kein Medienthema. Eher ein Schulhofthema. „Entenpopo“, das war noch einer der freundlicheren Spitznamen, der mir nachgerufen wurde. Anderen wären meine frühzeitigen Kurven vielleicht gar nicht aufgefallen, hätte ich nicht ungefragt alle in der großen Pause mit meinen chronischen Diätplänen unterhalten.
„Ich will so bleiben wie ich bin“, trällerte es Mitte der Achtziger gut gelaunt in Margarine-Werbespots, und aus dem Off tönte gleich darauf ein verheißungsvoll gerauntes „Du darfst!“ Sicherlich war ich nicht die einzige, die damals diese strenge Stimme aus dem TV verinnerlichte. Die Stimme, die mir sagte, was ich durfte, was nicht – und was das mit meinem Körpergewicht zu tun hatte. Wenn ich nur schlank genug war, so versprach sie, dann durfte ich so einiges: mich wohl fühlen in meiner Haut, kurze Röcke mit blauen Sternchen tragen, vielleicht sogar selbstbewusst genug sein, den Jungen bei der Tanzschulenparty anzusprechen, der mir so gefiel. Zeigte die Digitalanzeige der Badezimmerwaage aber mehr an als 58 oder, Gott bewahre!, 60 Kilo an, dann folgte die Selbstbestrafung auf dem Fuße. Mit Sieben-Tage-Körnerkur aus dem Reformhaus und Tanzverbot in eigener Sache.
Wenn ich daran denke, wird mir heute noch schlecht. Nicht wegen der Erinnerung an den Geschmack ungewürzten Buchweizens, eher vor Reue: Was habe ich damals an Energie verschwendet, an Gedanken über ein völlig nichtssagendes Thema! Was habe ich mir selbst verweigert, nur, weil ich eben nicht für Nena-Style-Streifenjeans gebaut war! Wie habe ich mir jahrelang das Leben vom Munde abgespart, nur weil die Zukunft nicht eintrat. Dieser Tag X, in dem ich in die blaue Satinhose in Größe 36 gepasst hätte, die ungetragen in meinem Schrank hing. Ständig und überall rechtfertigte ich mich für meinen Körper, beim Sport vor meinen Freundinnen, beim keuschen Knutschen mit meinem ersten Freund („Ich hab eigentlich gar kein Bäuchlein, ich hab nur gerade Pizza gegessen“), und sogar vor den Fachverkäuferinnen bei Oberpaur. Nein, eine Esstörung im engeren Sinne hatte ich nie. Nur, dass ich die Jahre von 14 bis 20 keinen Abend ins Bett ging, ohne genau aufzählen zu können, was und vor allem wie viel zu viel ich gegessen hatte. Inklusive Kalorienangaben. Die konnte ich auswendig.
Und da stand ich nun in Hamburg, 30 Jahre später, mit einer Hose in einer absurden Größe vor einem wandhohen Spiegel, nickte der Verkäuferin zu und dachte mir: genau. Nicht mein Job, hier mit Heidi-Klum-Körper hereinzumarschieren – sondern dein Job, Klamotten zu finden, in denen mein kurzen strammen Beine und mein runder Po sich sehen lassen können. Obwohl ich seit damals ein, zwei Kleidergrößen und etwa zehn Kilo zugelegt habe. Obwohl sich zwei Speckröllchen gletscherwanderungsgleich über meine Hüftknochen schieben, die ich beim besten Willen nicht nur auf zwei meine Kinder und ihr Dehnungswerk an meinem Körper schieben kann. Denn in Zwischenzeit hat sich einiges getan. In mir und um mich herum.
Es sind gute Zeiten für kurvige Frauen. Meghan Trainor trällert uns schon das ganze Frühjahr über die Ohren voll, wie gern sie ihren Polster-Popo hat, und lässt sich im Musikvideo dazu von entsprechend ausgestatteten Frauen umtanzen. Hätte mir doch Stefanie Tücking 1985 in „Formel Eins“ auch Clips mit solchen Role Models präsentiert! XL-Model Ashley Graham bringt im 44er-Bikini Kerle ins Schwitzen, das Frauenmagazin Grazia erklärt in einer Titelgeschichte, warum Mrs. Kardashians Rückwärts-Kurven unser inneres Bild von einem attraktiven Frauenkörper ändert. Ich bin also in super Gesellschaft – und mit mir eine ganze Reihe von 40somethings, die altersbedingt nicht mehr in Hotpants passen (von Madonna reden wir hier ausnahmsweise nicht.)
Aber viel wichtiger als die gesellschaftliche Rücken-, pardon, Popo-Deckung ist, was in all den Jahren in meinem Inneren passiert ist. Ich mag meinen Körper heute lieber als 1985. Nicht, weil er objektiv schöner wäre – ist er nicht. Sondern weil ich ihn mittlerweile schätzen gelernt habe. Als erstaunlich zuverlässiges Vehikel, das mich durch Lust und Leid steuert, das Babys genährt hat und Berge bestiegen. Als Mittelklasse-Gebrauchtwagen, der es gut mit mir meint, auch wenn er erste Abnutzungsspuren zeigt, auch wenn ich ihn nicht immer nach Scheckheft gepflegt habe. Eine Normalo-Kutsche, die aber meinen kostbarsten Besitz durchs Leben kutschiert, nämlich meinen Kopf. Ich bin bei mir angekommen. Zum Dank hat er auch schöne Klamotten verdient, mein Entenpopo.
Ich habe die „Please“-Jeans übrigens tatsächlich gekauft. Auf Drängen der Verkäuferin in S. „Die sind so geschnitten“, ermutigte sie mich, „wenn du die in M nimmst, sitzt die nach der ersten Wäsche nicht mehr knackig.“ An der Kasse fragte ich dann doch noch nach dem Geheimnis der Blitz-Diät-Hose: Was tun wohl Frauen, die sonst Größe S tragen – so richtig in echt? „Für die gibt es XS und XXS“. Das also ist der Trick: funktioniert wie bei Kondomen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Denn während Männer niemals eine Nummer kleiner tragen würden als „L“, fühlen sich Frauen unendlich geschmeichelt, wenn sie ihre 67 Kilo in Teenager-Größen verpacken. Ziemlich durchsichtige Sache. Gefreut hat’s mich trotzdem.
Toller Artikel. Ich fühl mich mit meinen 5kg “zuviel” auch schön, kann ja nicht sein 🙂
Danke dir fürs noch besser fühlen!
lg babs
liebe verena,
du sprichst mir unglaublich aus der seele. als 44jährige, die sich jetzt morgens in den spiegel sehen und ehrlich sagen kann: Du bist schön! habe ich in meinen jungen Jahren zwar nicht unter Gewichtsproblemen (allein das Wort!!) gelitten (danke Gene), mich aber immer hässlich gefühlt. wenn ich mir heute fotos von damals ansehe, schaut mich kein supermodel an, aber eine hübsche frau. immerhin: heute bin ich – wie du – bei mir angekommen und mag meinen “mittelklassewagen”, der meinen kopf trägt – der ist, wie du ganz richtig sagst, das wichtigste!
allerliebste 40something grüße von Sabine
Danke, liebe Sabine – freut mich, dass ich mit meinen Gedanken zu dem Thema offenbar nicht allein bin, und dass diese Irrfahrt auch für andere ein Happy End hat :)!
Hach, der rosa Einteiler. Ich schätze, C & A 1981. Oder Kaufhaus Oberpaur. Auf jeden Fall so Vintage, dass man ihn heute nicht mehr bekommt. Die neue Generation von One-Pieces überzeugt mich jedenfalls nicht halb so sehr – hab mal eins anprobiert und bin sofort schreiend weggelaufen 🙂
Gibt es diesen rosa-weißen Einteiler noch? Der ist ja ein Traum 🙂
„Eine Normalo-Kutsche, die aber meinen kostbarsten Besitz durchs Leben kutschiert, nämlich meinen Kopf.“ – wunderbar! Vielen Dank, allein schon für diesen Satz. Und viele Grüße Nicole
Danke, Nicole! Bei so viel nettem Feedback fühl ich mich gleich noch schöner 🙂
Und womit? Mit Recht – Das Tollste daran ist zudem, dass du sagen kannst: Schön UND schlau 🙂
Hilfe, ich werde rot 🙂