Es war an einem heißen Spätsommertag im Jahr 1990, als ich dieses Graffito in Kreuzberg entdeckte. Sprühbuchstaben in Cinemascope-Breite auf einem Gründerzeithaus: FREIHEIT FÜR MICH! Ich erinnere mich genau, wie ich an diesem Tag ziellos und leicht verpeilt durch die Gegend lief, mit dem Gefühl, dass ich mich nicht mehr auskannte in der Stadt und in meinem eigenen Leben.
Was die Stadt anging: Die Mauer war weg, ‘Unter den Linden’ hatten Jeansshops eröffnet, am Brandenburger Tor verkauften windige Gestalten mit Armeemützen Ostblock-Devotionalien und Steinbröckchen, die angeblich aus dem antifaschistischen Schutzwall stammten. Man munkelte, der Osten sei total im Kommen. Zwangsumtausch und mühsames Geldausgeben im Centrum-Warenhaus, so wie bei der Klassenreise im Jahr zuvor, waren Geschichte. Was mein Leben anging: Nun, ich war 20, frischgebackene Studentin und gerade zu Hause ausgezogen. Eigentlich frisch verliebt, aber auf diesem Kurztrip in die Noch-nicht-Hauptstadt dann doch wieder auf der Matratze eines sexy Kreuzberger Schwaben gelandet, den ich ein paar Monate zuvor kennen gelernt hatte. Ein geheimnisvoller Langhaariger (uiuiui!), dessen Weltschmerz sich in erster Linie daraus speiste, dass er im Postzustellbezirk 61 wohnte und nicht in Berlin 36. Also eher im Kreuzberger Randgebiet. Klingt extrem klischeehaft, aber wahr, und wenn so ein weltgewandter Typ sich für einen interessiert, während man eigentlich gerade einen neuen festen Freund hat, das muss man mit 20 erstmal verarbeiten.
Ich steh auf Berlin – und Berlin steht offensichtlich auch auf mich
Daran musste ich denken, als ich vergangene Woche von Hamburg aus für ein Interview nach Berlin gereist war und über den Oranienplatz schlenderte. Dass diese Stadt seit einem Vierteljahrhundert ein Bilderbuch ist für einige meiner schönsten Erinnerungen, eine Zeitkapsel, in der ich ständig denke: Mensch, da war ich doch dann und dann mit dem und dem. 1992, als man für 250 Mark noch große Wohnungen mit Kohleofen mieten konnte! Dabei habe ich nie in Berlin gelebt. Aber: Ich steh auf Berlin, so wie es “Ideal” schon in den frühen Achtzigern taten. Berlin, das ist meine Langzeit-Affäre, immer wieder aufregend, weil nie durch Alltag belastet, nie dem Zwang ausgesetzt, etwas von Dauer aufzubauen. Meine Insel, mein Sehnsuchtsort, an dem ich lange Zeit dringend leben wollte, bis ich merkte: Hamburg passt viel besser zu mir– aber deshalb muss ich Berlin noch lange nicht aufgeben. Berlin, das ist meine selbsterfüllende Prophezeiung: Hier bist du eine andere, vielleicht mehr du selbst, vielleicht eine abenteuerlustigere, eine hungrigere, mittlerweile auch: eine jüngere Version deiner selbst.
Heute hat dieses Gefühl natürlich nichts mehr mit fremden Matratzen in versifften WGs zu tun, schließlich leben auch die Schwaben von damals mittlerweile in gut gesettelten Verhältnissen und fahren ihre Kinder mit dem Lastenfahrrad zum Biomarkt. Aber selbst wenn ich nur für ein berufliches Gespräch in Berlin bin, alles hat dort für mich einen verheißungsvolleren Geschmack als anderswo. Eine bestimmte Chemie, die dafür sorgt, dass Berlin immer die buntesten Geschenke für mich hat. Nicht nur bei privaten Besuchen (gerne erinnere ich mich an die illegalen Popup-Clubs der 90er, als man in stillgelegten Supermarktkühlhäusern tanzte und jeder Keller mit einem Sperrmüllsofa zur Slam-Lesebühne umfunktioniert wurde!), sogar, wenn mich der Job dorthin führt. Wenn ich in Berlin zu tun habe, ist es immer einen Tick glamouröser als anderswo: Interviews mit Schauspielern, Begegnungen mit schillernden Menschen. Zufall? Stadt-Karma? Selbst wenn meine Bloggerkollegin Anna alias Berlin Mitte Mom ganz nebenbei sagt: Toll, du bist in Berlin, wir sollten uns mal live kennen lernen, komm doch zum Frühstück, dann heißt das in Wirklichkeit: Ganztagsbrunch in einem entzückenden Garten, während meine Kinder sich mit ihren im Dachgartenplanschbecken verbrüdern (erinnerst du dich auch so gern daran, Anna?). Alles eine Nummer größer und zugleich eine Nummer lässiger als woanders.
Nie wieder lästern über Prenzlauer-Berg-Mütter: Keine Großstadt ist so ein toller Kinderspielplatz
A propos Kinder: Es gibt ja überhaupt keine andere Großstadt (zumindest kenne ich keine), in der es sich auch mit Nachwuchs so entspannt reisen lässt. Weil einfach überall Platz ist, zum Toben, Rennen, und weil die Stadt so laut ist, dass Kinder nicht ermahnt werden müssen, still zu sein. Vor ein paar Jahren, als meine noch kleiner waren, haben wir uns ein ganzes Wochenende lang unter den viel geschmähten Prenzlauer-Berg-Eltern aufgehalten und haben sie einfach nur glühend beneidet: Um das riesenhafte Eltern-Kind-Café am Helmholtzplatz, mit ganz viel Auslauf für den Bobby-Car-Fuhrpark und netten Sitzgelegenheiten für die Eltern; für den Tapas-Spanier in der Stargarder Straße mit bestem Essen, Fußball-TV und angegliedertem Spielplatz; und den Planschbach im Volkspark Friedrichshain.
Ja ich weiß, möglicherweise sind solche Ecken auch in Berlin bald Geschichte, wenn die Quadratmeterpreise explodieren und das Verhältnis von Umsatz, Kosten und Fläche nicht mehr stimmt. Und jedes Mal, wenn ich auf Facebook mal wieder begeistert ein Berlinbild poste, lachen mich meine Berliner Freunde aus und sagen: Was hast du bloß für ein Idealbild von unserer Stadt im Kopf, die ist sowas von runtergekommen und überlaufen und durchgentrifiziert, schau doch mal hin, wa! Nee: So genau will ich vielleicht gar nicht hinschauen. Denn in meinen Träumen, da ist in Berlin immer ganz viel Platz. Für Flausen im Kopf, durchtanzte und durchfühlte Nächte, Bewegung aller Art. Immer wenn ich in dort bin, schmiede ich Pläne: endlich den Roman schreiben, den ich schon immer schreiben wollte, oder wenigstens einen literarischen Salon eröffnen, oder, oder…. Ein Spielplatz für meine Seele, rund um die Uhr geöffnet, für jedes Alter geeignet. Eben: Freiheit für mich. Danke, Berlin. Ick liebe dir.