Lange Zeit mussten sich Frauen als Rabenmütter beschimpfen lassen, wenn sie sich nicht jahrelang rund um die Uhr um ihre Kinder kümmerten, sondern gleichzeitig nach beruflicher Erfüllung suchten. Heute geht das Spielchen eher umgekehrt: Wehe, eine Frau entzieht sich dem Karrierekarussell, dann gilt sie als Heimchen am Herd. Wie kommen wir aus dieser Widerspruchsfalle heraus, warum müssen wir uns immer rechtfertigen, egal wie wir uns entscheiden, und warum brechen ausgerechnet hippe Berliner Autorinnen neuerdings eine Lanze für das Modell Vollzeitmutter? Zu diesem Thema haben wir mit dem Historiker Andreas Rödder gesprochen (übrigens auch ein 40-something). Rödder ist Professor an der Uni Mainz und forscht zu Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit und dem gesellschaftlichen Wertewandel.
40-something: Derzeit sorgt ein Buch für Diskussionen, auch weil es aus einer überraschenden Ecke kommt. Unter dem Titel „Die Abschaffung der Mutter“ beklagen sich die Berliner Romanautorin Alina Bronsky und die Freiburger Geburtsbegleiterin Denise Wilk, dass mütterliche Tätigkeiten heute nicht mehr ausreichend gewürdigt werden. Die Autorinnen sagen: Die Debatte kreist nur um die Frage von Kinderbetreuung und Vereinbarkeit, Vollzeitmütter werden diskriminiert. Das hat mich gewundert, schließlich kommt die Kritik nicht vom katholischen Landfrauenverband, sondern von zwei eher hippen, großstädtischen Frauen. Dazu passt, dass der „Spiegel“ neulich in einem Beitrag die „Rückkehr der Hausfrau“ postulierte. Wie erklären Sie sich das?
Andreas Rödder: Ich finde das gar nicht so verwunderlich. Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nur bedingt politisch steuern – das bekommen die Regierungsparteien jetzt zu spüren. In etablierten konservativen Parteien ist kaum mehr Platz ist für solches Gedankengut, deshalb kommen diese Stimmen nun eher aus dem städtisch-alternativen Milieu.
In der westdeutschen Nachkriegszeit gab es ja noch einen breiten Konsens über Geschlechterrollen, etwa: Männer arbeiten, Frauen bleiben im Idealfall zu Hause; Kinder haben ist die Erfüllung des Frauenlebens; eine Ehe ist eine verlässliche Versorgungsgemeinschaft. Heute hat man das Gefühl, Frauen sollen alles zugleich sein: selbständig und gleichzeitig anschmiegsam, schicke Gespielin, perfekte Mutter, Bildungs-Coach ihrer Kinder und auch noch beruflich erfolgreich. Woher kommt dieser Berg von Ansprüchen?
Dazu muss ich etwas ausholen. Das gesamte bürgerliche Familienmodell, wie wir es heute kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. In der frühen bürgerlichen Gesellschaft war der eigene gesellschaftliche Status erstmals nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand gekennzeichnet, sondern durch Leistung und Bildung definiert, jedenfalls für Männer. Das führte zu einer Spaltung der Sphären: Der Mann bewegte sich in der Öffentlichkeit, im Berufsleben, die Frau war für die häusliche Sphäre und die Familie zuständig. Damals galt es als Privileg, als Symbol des neuen bürgerlichen Status, wenn eine Frau nicht arbeiten musste. Anders als in einem bäuerlichen oder Arbeiterhaushalt. In der Nachkriegszeit wurde die Familie dann erneut als Hort des Glücks idealisiert, auch als Reaktion auf die schlimmen Erfahrungen der Nazijahre. Allerdings war das historisch gesehen nur ein kurzes Wiederaufflammen. Denn schon in den Zwanziger Jahren gab es eine deutliche Emanzipationsbewegung, und daran knüpften wiederum die Frauen in den Sechziger, Siebziger Jahren an. Dass sie die bisher männlich dominierten Sphären für sich reklamierten, war also nichts Neues.
Und dieses historische Gepäck, von „Wenn Mutti nicht arbeiten muss, hat Vati es geschafft“ bis „Eine echte Frau steht auch finanziell ihren Mann“ schleppen wir alles mit uns herum?
Ja. In den letzten Jahrzehnten hat sich das Familienbild stark gewandelt, von der Einverdienerehe zum Idealbild einer Familie mit gleichberechtigter Aufgabenverteilung zwischen den Partnern. Wobei das Ideal größtenteils von der Wirklichkeit abweicht, denn in den meisten Familien gibt es heute eher das Modell Hauptverdiener plus Dazu-Verdienerin. Diese Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit führt zu einer noch größeren inneren Spannung. Dazu kommt, dass die eigenen Ansprüche an die Beziehung zum Kind und an die Partnerschaft ebenfalls gestiegen sind.
Vergleichen wir uns vielleicht auch zu viel mit anderen?
Sicherlich, auch die Globalisierung hat daran ihren Anteil. Die französischen Mütter sind schöner, die finnischen Kinder schlauer, die schwedischen Eltern leben partnerschaftlicher und haben familienfreundlichere Arbeitgeber….
Unterscheidet sich die Erfahrung westdeutscher Frauen in diesem Punkt von der Erfahrung ostdeutscher Frauen?
Ja und nein. Zwar sind ostdeutsche Frauen zum größeren Teil mit erwerbstätigen Müttern aufgewachsen, aber der Beweggrund war ein anderer. Man könnte ihn als proletarischen Imperativ bezeichnen: Die Frauen in der DDR gingen an die Werkbank, weil sie es aus ökonomischen Gründen mussten. Den Frauen im Westen ging es mehr um Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Teilhabe als um den Verdienst. Heute gibt es eine Art große Koalition aus Kapitalismus und Feminismus, aus der IHK und Manuela Schwesig: Unser Leben ist dem Diktat der Ökonomie unterworfen, und zugleich fühlen Frauen sich durch Erwerbsarbeit auch psychisch aufgewertet. Gleichzeitig wird nicht bezahlte Arbeit – also alles von Haushaltstätigkeit bis Kinderpflege – gedanklich abgewertet.
Und an diesem Punkt setzt die Kritik von Leuten wie Bronsky und Wilk an?
Genau. Es ist ja so: Die Mehrheit der Menschen fügt sich einem vorgegebenen Rahmen, versucht, den Erwartungen ihrer Umwelt zu entsprechen. Aber im Moment führen beide Wege zu Stress, egal ob man sich anpasst oder rebelliert. Ganz konkret: Der moderne gesellschaftliche Konsens sagt, dass eine Mutter ein, zwei Jahre nach der Geburt zurückkehren sollte in ihren Job. Macht man da mit, gerät man möglicherweise unter Stress, weil man sich zwischen Kind und Job zerreißt, macht man nicht mit, muss man sich rechtfertigen. Ich finde es nachvollziehbar, wenn Frauen fragen: Soll ich mir vom Staat vorschreiben lassen, wie meine Selbstbestimmung auszusehen hat?
Sind die Väter ähnlich unter Druck wie die Mütter?
Nicht ganz so sehr, aber auch. Der moderne Vater soll sanft und männlich zugleich sein, immer noch in der Lage, allein eine Familie zu ernähren, aber auch einfühlsam auf Frau und Kinder eingehen. Auch das ist ein Spannungsverhältnis zwischen Realität und neuen gesellschaftlichen Wunschvorstellungen, dem kaum jemand gerecht werden kann.
Wenn Sie als Historiker einen Schritt zurücktreten und sich das große Bild anschauen: Wagen Sie eine Prognose, wo die aktuelle Debatte hinführt?
Sie ist ein ganz typisches Beispiel für einen gesellschaftlichen Wertekonflikt. Wenn Staat und Gesellschaft bestimmte Rollenmodelle vorgeben, erwächst daraus häufig eine Gegenbewegung, und wenn sie ein Sprachrohr hat, wird sie auch gehört – in Zeiten von Social Media und digitaler Vernetzung schon fast selbstverständlich. Ich glaube nicht, dass wir es mit einem Backlash zu tun haben im Sinne von: Wir besinnen uns zurück auf die gesellschaftlichen Vorstellungen der Fünfziger. Aber ich fände es wünschenswert, wenn die Debatte zu mehr Toleranz führen würde. Wenn für Frauen wie für Männer eine echte Wahlfreiheit nach allen Seiten möglich wäre. Und wenn keine Familie sich mehr rechtfertigen muss für ihre ganz eigene Balance zwischen Erwerbsarbeit und Kindererziehung.