Missmutig sitzt er da. Ziemlich klein, ziemlich rund, und er motzt. Lautstark meldet der Kleine an, dass er die Situation gar nicht gut findet. Er bewegt sich nicht, seine Eltern schwirren aufgeregt um ihn herum. Auf meinem Balkon hat sich ein Drama abgespielt, denn ich habe eine Meise. Genau genommen eine ganze Meisenfamilie.
Prolog: Die neuen Nachbarn ziehen ein
Ein sehr schickes Eigenheim wird hier immer wieder frei. Vor einigen Jahren haben wir auf dem Balkon einen Nistkasten aufgehängt. Und tatsächlich: Die Hamburger Walddörfer sind auch für Vögel eine grüne attraktive Wohnlage und das winzige Holzhäuschen mit Dach wird zur Brutstation. Eine Kohlmeise sitzt eines Morgens auf der Balkonbrüstung und zwitschert aufgeregt. Endlich scheint die Sonne, und ich will den Balkon frühlingsfit machen. Empörtes Gefiepe, böse Blicke und ich ahne – meine Anwesenheit ist gar nicht willkommen. Ich sehe im Baum eine zweite Meise und weiß: Hier wird gebrütet. Ein paar Tage später höre ich lautes Tschilpen. Mama und Papa Kohlmeise sind nun ständig im Anflug und füttern die hungrigen Schnäbel ihrer frisch geschlüpften Brut …
Flügge werden: 1. Akt
Mein Schreibtisch steht direkt neben dem Fenster zum Balkon. Ein Konzert lauter Vogelstimmen irritiert mich. Das ist anders als sonst. Lauter. Ob heute der Tag ist, an dem die Kleinen sich aus dem Nest verabschieden? In den letzten Jahren habe ich das immer verpasst. Die Meisen mögen bei den Flugstunden auch nicht so gern beobachtet werden. Ein wenig vorsichtig muss der Nachwuchs sein, denn direkt unter dem Balkon wohnt im Erdgeschoss ein großer schwarz-weißer Kater, der sichtlich aufgeregt die lauten Vögel sehr genau im Auge hat.
Wums. Irgendetwas ist gegen das Fenster geflogen. Noch lautere Vogelstimmen. Ich gucke näher hin und öffne die Balkontür. Die großen Kohlmeisen fliegen schnell in die Bäume, wirken aufgeregt. Ein lautes Fiepen. Ein wenig penetrant. Und dann sehe ich ihn. Einen winzigen, pummeligen Vogel. Er versucht mit den kleinen Flügeln zu flattern. Ein Meisenküken. Vermutlich hat es zu früh einen ersten Flugversuch gestartet oder ist versehentlich aus dem Nistkasten gefallen. Ich tippe aber auf das Fliegen, denn vermutlich hat die große Fensterfront irritiert. Ob das Küken dagegen geflogen ist? Es sieht ziemlich ängstlich aus. Ich will es nicht noch mehr verschrecken und schließe vorsichtig die Tür.
Flügge werden: 2. Akt
Eine Stunde später hockt der Kleine noch immer auf dem Balkon. Aber ängstlich wirkt er nicht mehr. Eher empört und motzig. Laut, sehr, sehr laut zeigt er, dass er unzufrieden ist. Fiept. Sperrt das Schnäbelchen auf. Und die Eltern flattern um ihn herum. Versorgen ihn mit Nahrung. Nehmen ihn die Mitte. Es sieht fast so aus, als ob Mama und Papa aufmuntern möchten: Hey, du schaffst das! Eine Amsel sitzt auf einem Blumenkasten und schaut zu.
Irgendwie kommt mir die Situation bekannt vor. Es stresst, wenn Nachwuchs flügge werden will. Die Eltern sind ja sehr bemüht. Aber wenn die Brut eigentlich noch gar nicht wirklich die Flügel heben will oder auch noch nicht kann, sind die Großen hilflos. Klar, Mut machen geht. Versorgen auch. Doch der Abflug, der muss schon allein geschafft werden. Und Gefahren lauern überall. Da ist der Nachbarskater, Raubvögel könnten von oben kommen. Oder Menschen dem hilflosen Kleinen etwas antun. Als ich kurz auf den Balkon gehe, fliegen die Eltern schnell weg. Der Kleine bleibt auf dem Stuhl, sieht mich an und zittert. Ich verziehe mich schnell wieder.
Flügge werden: 3. Akt
Das Spektakel auf dem Balkon wird wieder lauter. Wo ist denn die kleine Meise? Ihr lautes Motzen hat mich nun schon den halben Tag begleitet. Ich hatte ein Bild gepostet und ließ Freunde via Facebook live am Geschehen teilhaben. Ich habe halt eine Meise …
“Was macht Mini-Motzki?” fragte Esther. Und somit war der kleine Schreihals getauft. Denn Motzki, das passte. Denn er wirkte einfach not amused. Alles klappte einfach nicht so richtig. Ja, er war geflogen. Kurz gegen das Fenster und dann vom Boden des Balkons bis auf den dort stehenden Holzstuhl. Und während die Geschwister scheinbar schon die Welt erkundeten, blieb dieser kleine Kohlmeise nichts anderes übrig, als es immer und immer wieder zu versuchen.
Mein eigener Nachwuchs war mittlerweile auch nach Hause gekommen. Und fiepte – äh, fragte laut nach Mittagessen. Meine zwölfjährige Tochter hatte gerade ihren ersten Tag in einem echten Büro. In der PR-Agentur Stilgeflüster durfte sie beim “Arbeitswelterkundungstag” ein Event mit vorbereiten. “Das war so cool!” erzählte sie aufregt. Flügge werden. Das ist für alle gar nicht so einfach. Jeden Tag ein wenig mehr loslassen, wissen, dass da Gefahren lauern und gleichzeitig darauf vertrauen, dass es schon klappen wird. Und hoffen, dass das erste Fliegen und Welt erkunden Spaß macht. Ich denke an die emsigen Meisen-Eltern, die ständig den motzenden Nachwuchs mit Würmern versorgen und so auf den guten Abflug zu hoffen scheinen.
“Ist Motzki jetzt deine Paten-Meise?” fragt die Tochter, als ich vom Drama erzähle. Wie dem Kleinen wohl geht? Wir schleichen vorsichtig auf den Balkon. Dort ist es ganz leise. Kein Fiepen. Kein Rascheln in der Nähe des Nistkastens. Er hat es geschafft. Doch, ganz bestimmt. Irgendwo fliegt nun am Hamburger Himmel eine junge Kohlmeise und spannt die Flügel weit. Vielleicht kommt er ja in der nächsten Brutzeit zurück? Der Nistkasten ist frei.