Film im Kopf

Görlitz ist die schönste Kulisse für jeden Frühlings-Streifen – das weiß man nicht nur in Hollywood. Nichts wie hin, bevor auch alle anderen die Neiße-Stadt entdecken!

Heute abend hat er sein Klavier an den Untermarkt geschoben. Da sitzt er, der schlesische Songwriter, Sonnenbrille im Gesicht, Lederjacke am Leib, und singt  Lieder, die dem Frühlingsabend wie auf den Leib geschrieben sind. Melodien für glänzendes Kopfsteinpflaster und frisches Grün am Flussufer, Verse, in denen es um die Liebe geht und das Reisen und die süße Lust, niemals so richtig anzukommen. Unter den Renaissancearkaden des Sandsteinbaus gegenüber wippt ein Mädchen im Hippie-Look  mit Rastazöpfen im Hippie-Look im Takt. Auf der Straße tanzen Kinder in Fahrradhelmen und mir läuft ein kleiner elektrischer Schauer über den Rücken: In welchem Film bin ich denn hier gelandet?

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Traum in grau und bunt: Untermarkt in Görlitz

 

So funktioniert er, der typische Görlitz-Moment: eine zufällige Straßenszene, und trotzdem wie inszeniert, weil in dieser Stadt einfach alles stimmt. Das Licht, das Pastell der Altstadthäuser, die ältesten davon aus dem Mittelalter, andere aus der Renaissance und der Gründerzeit. Trotzdem verdient Görlitz noch immer das strapazierte Label „Geheimtipp“, weil wenigstens jetzt in der Vorsaison nicht ganze Heerscharen anderer Touristen die traumhafte Kulisse verstellen. Vielleicht, weil die östlichste Stadt Deutschlands mit ihren gerade mal 56.000 Einwohnern dann doch zu klein ist, zu weit ab vom Schuss, ohne ICE-Anbindung, Weltklasse-Museum, Sterne-Restaurant. Und so fühlt sich so ein Bummel zwischen wuchtigen Stadttürmen und filigranen Fassaden, zwischen Prachtplätzen und hochglanzpolierten Stadtpalästen an, als wäre man in einem menschenleeren Venedig oder einem verlassenen Florenz gelandet. Ach so, die Sterne-Restaurants: Man kann in Görlitz hervorragend essen, zum Beispiel im historischen Gewölbe des Vino e Cultura in einer Häuserzeile am Untermarkt, und zwar zu einem Preis, für den man in Venedig gerade mal ein einen Espresso und ein Tramezzino bekäme.

Und noch etwas macht die Neiße-Stadt mit ihrem deutschen und ihrem polnischen Teil so sympathisch: Sie hat genau die richtige Größe für ein Wochenende, genau die Menge an Sehenswürdigkeiten, Galerien mit handgemachter Bunzlauer Keramik und Arkadencafés, dass man nach zwei, drei Tagen als Kenner wieder abreist. Nicht ohne zuletzt auch noch den verwunschenen Friedhof in der Nikolaivorstadt zu besuchen, einen Ort wie aus einem Novalis-Gedicht.

Dabei hätte die Görlitz-Story um ein Haar einen weniger glücklichen Ausgang genommen. Im Jahr 1989, kurz vor dem Mauerfall, hatte die DDR-Staatsführung bereits beschlossen: die marode Innenstadt mit den ganzen klassenfeindlichen Bauten wird platt gemacht, stattdessen machen wir Platte. Aber wie so oft im Film, wenn zum Ende des zweiten Aktes die schlimmstmögliche Wendung droht, blieb der Stadt dieses Schicksal erspart – buchstäblich last Minute. Heute, 25 Jahre später, haben deutsche und internationale Filmproduktionen Görlitz als perfekte Kulisse entdeckt, als Double für die Vorkriegs-Stadtlandschaften von Berlin oder Heidelberg. Welcome to Görliwood: Bei den Dreharbeiten zu „Der Vorleser“ logierte Hollywood-Beauty Kate Winslet im Hotel Tuchmacher, das historische Jugendstilkaufhaus in der Innenstadt diente als „Grand Budapest Hotel“ im gleichnamigen Film von 2014. Im Moment parkt täglich eine Karawane von Produktionsfahrzeugen im Gründerzeitviertel hinter dem Wilhelmsplatz, um vor den heruntergerockten Fassaden der Emmerichstraße Hans Falladas Weltkriegs-Widerstands-Epos „Jeder stirbt für sich allein“ auf Zelluloid zu bannen. Ein Stadtviertel übrigens, in dem sogar Zeitreisen möglich sind: von den aufgerüschten Altbauten in der Augustastraße, beliebter Alterssitz westdeutscher Rentner, sind es nur fünf Minuten zu den graubraunen, unrenovierten Häuserfluchten, die ein enormes Kapital für die Stadt bergen. Mehr jedenfalls, als wenn man sie ebenfalls aufhübschen und quadrameterweise für vergleichsweise wenig Geld an Idyll-Sucher aus Stuttgart oder Düsseldorf verkaufen würde.

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(Fast) alles echt: filmreife Fassade in der Emmerichstraße

 

Wer aber Görlitz’ Zauber-Kulisse so ganz und gar für sich allein haben möchte, der muss warten können: so bis halb zehn, zehn Uhr abends. Denn zu einer Tageszeit, in der die Yuppies, Lohas und Bohos vom Prenzlauer Berg oder in London-Notting Hill gerade mal müde auf die Uhr schauen und überlegen, wo man heute abend speisen könnte, werden in Görlitz schon beinahe die Bürgersteige hochgeklappt. Der Wirt im italienisch-schlesischen Lokal Destille im alten jüdischen Viertel poliert seine Gläser und guckt schon so, dass wir nur zögernd eine letzte Runde Saale-Unstrut-Riesling bestellen. Und danach auf die Gasse treten, ein wenig trunken vor Glück und dem Glanz auf den glatt polierten Pflastersteinen, und durch eine verwunschene Stadt streifen, als wären wir völlig allein auf der Welt. Stars in unserem eigenen Film. Dazu brauchen wir nicht einmal einen Soundtrack. Obwohl der Songwriter vom Untermarkt sicher morgen sein Piano wieder an eine andere, zauberhafte Stelle der Altstadt rollen wird.

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Frühlingssymphonie: Liedermacher am Postplatz

 

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