Kritik bereitet ihr Magenschmerzen, sich wehren fällt Verena Carl schwer. Ein klassischer Fall von Konfliktscheu. Was hilft dagegen: Ursachenforschung betreiben, coachen lassen – oder vielleicht ein Boxtraining?
Anlauf genommen. Abgesprungen. Und wieder die Latte gerissen. „Weißt du“, sage ich zu meiner Freundin Anke am Telefon, „in letzter Zeit haben wir uns ja ziemlich häufig gesehen.“ Gespannt warte ich, ob sie den leisen Vorwurf in meinem letzten Satz bemerkt hat. Hat sie nicht. „Stimmt“, antwortet sie fröhlich, „und darüber freue ich mich sehr. Du gehörst doch zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben.“ Noch könnte ich das Missverständnis korrigieren. Eigentlich wollte ich ihr endlich sagen, dass mir ihre große Anhänglichkeit zu viel wird, seit Monaten. Weil ich meine seltenen freien Abende nicht immer nur mit ihr verbringen will, sondern auch Zeit brauche für andere Freundschaften, meinen Yogakurs, oder um endlich den neuen Martin Suter anzufangen. Aber offensichtlich hat sie mich nicht verstanden. Wie auch: Vor Angst, sie zu kränken, habe ich mich in nebulösen Andeutungen verloren.
Harmoniesucht. Eine Diagnose, mit der ich nicht allein bin. Wie vielen Frauen fällt es mir schwer, Kritik zu üben. Umgekehrt ist es noch schlimmer: Greift mich jemand an, berechtigt oder nicht, fühle ich mich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Ob Freundinnen, meine Mutter, mein Mann: Gerade dort, wo es wichtig wäre, warte ich zu häufig ab und hoffe, dass Knoten sich von alleine lösen. Egal, ob große „Was-ich-dir-schon-seit-Jahren-sagen-wollte“-Knoten, oder kleine Verhedderungen wie in der Freundschaft mit Anke. Dabei ziehen sie sich meistens um so fester zu, je länger man wartet. Und das weiß ich auch. Zeit, etwas zu ändern.
Harmoniesüchtig? Kinder kennen das (noch) nicht
Ob ich von meinen Kindern noch was lernen kann? Helen ist neun, ihr Bruder Henri sechs, und Streit gehört zu ihrem Alltag wie Frühstücksflocken und Lego Chima. Und ist auch genau so schnell wieder vergessen. Das will ich mir noch mal genauer anschauen. Nachmittags auf dem Spielplatz beziehe ich meinen Beobachtungsposten im Park, zwischen Piratenschaukel, Riesenrutsche und Skater-Rampe, und warte, dass es kracht. Nach einer Stunde Intensiv-Beobachtung weiß ich: Streit ist ein Kinderspiel, so lange sich keiner einmischt. Zwar kracht es alle zehn Minuten: Weil Helen auf der Piratenschaukel stehen will und Henri sitzen, weil er aus dem Skate-Wettbewerb aussteigt und lieber zu seinen Fußballkumpels eilt. Aber genau so schnell ist auch alles wieder vergessen. Zur Not geht man sich eben aus dem Weg, gefühlte fünf Stunden lang, die etwa fünf Minuten dauern. Kompliziert wird es eher, wenn Mutti angetrabt kommt und den Schiedsrichter gibt: „Guck mal, jetzt ist dein Bruder (oder deine Schwester) ganz traurig!“ Warum sollte das nicht auch in Erwachsenenbeziehungen funktionieren: Dieser Rhythmus von Gewitter und Frischluft? Ohne die Angst davor, ohne endlose Wiedergutmachungsrituale danach?
Weil ich es selbst von klein auf anders erlebt habe – und weil es schwierig ist, die eigene Konfliktkultur zu verändern. Das erklärt mir Beate Scherrmann-Gerstetter am nächsten Tag. Sie hat viele Jahre in der Einzel- und Paarberatung gearbeitet, schreibt Bücher mit ihrem Mann, einem Familientherapeuten, und sie sagt: „Ich kann Ihr Problem gut verstehen, auch ich war eine ‚Brave Tochter’.“ Mit diesem Schlagwort bezeichnet sie Frauen, die nach außen stark und selbstbewusst wirken, aber denen es dennoch schwerfällt, sich gegen andere abzugrenzen. Die sich Kritik entweder zu sehr zu Herzen nehmen oder sie trotzig abwehren. Äußerlich sind „Brave Töchter“ ganz unterschiedlich: die einen schmieren Leberwurstbrote für ihren Ehemann, die anderen gründen Unternehmen oder laufen allein den Jakobsweg ab. Aber eines haben sie alle gemeinsam: ein Gefühl aus der Kindheit. Das Gefühl, andere entlasten zu müssen, funktionieren zu müssen. Sie sind harmoniesüchtig.
Vor allem deshalb, weil die eigenen Eltern selbst etwas hatten, an dem sie schwer trugen. „Belastendes im Familiensystem wird über Generationen weitergetragen – vor allem dann, wenn Dinge verschwiegen und verdrängt werden“, ist Scherrmann-Gerstetter überzeugt. Kommt mir sehr bekannt vor: Auch mir war es als Kind wichtig, meiner Mutter keine Probleme zu bereiten. Weil sie es als Alleinerziehende nicht leicht hatte. „Es geht nicht darum, nachträglich den Eltern Vorwürfe zu machen“, so Scherrmann-Gerstetter, „sondern zu erkennen: Auch sie waren Opfer der Umstände – und jetzt übernehme ich für mich Verantwortung und finde heraus, was mir guttut.“
Nur: Verstehen und Umsetzen, das ist zweierlei. Zwar weiß ich jetzt noch besser, warum ich so reagiere, wie ich reagiere – aber das schafft nicht automatisch neue Muster. Ob ich meinen Geist durch den Körper überlisten kann? Boxtraining, das wär’s. Um mich innerlich besser zu wappnen. Und die Kunst des fairen Austeilens zu lernen. Deshalb stehe ich an einem Montagabend in der Turnhalle eines schicken Gründerzeit-Gymnasiums und warte, dass Helmut mich haut. Helmut Jung ist der Trainer von Hamburgs erster Frauenboxgruppe. Ein schlaksiger Typ, der nicht aussieht als wie einer, der seinem Gegner ein Ohr abbeißt. Angst habe ich trotzdem. Eine Sorte Angst, die mir vertraut ist. So ähnlich geht es mir, wenn jemand ein Gespräch mit den Worten „Wir müssen mal reden“ beginnt. „Nimm die Ellenbogen zusammen“, mahnt mich Helmut, „blockier mich! Schütz dich!“ Zack: der erste Schlag mit einem weichen Lederhandschuh. Ich bin seltsam erleichtert. Hat ja gar nicht wehgetan, möchte ich singen. Bäh-bäh, bäh.
Etwa zehn Frauen sind mit mir in der Halle, darunter eine Krankenschwester, eine Psychologin, eine Buchhändlerin. Einige burschikos, einige weiblicher, mal jünger, mal älter. Nach einer Übungsphase wird’s ernst: Für jeweils 90 Sekunden steigen zwei miteinander in den Ring. „Komm, such dir eine Partnerin“, fordert Helmut mich auf. Moment mal: Ich soll mich ernsthaft hauen? Heute schon? „Ohne Handschuhe, nur Oberarm-Ticken. Wie früher auf dem Schulhof.“ Zwar hab ich mich als Kind nie geprügelt, aber tatsächlich: mit Juliane geht das. Und macht sogar Spaß. „Hast dich gut geschlagen“, lobt Helmut.
Ganz zufrieden bin ich trotzdem nicht. Es geht mir wie nach dem Karatekurs, den ich als Teenager gemacht habe und bei dem ich mich immer fragte: Was, wenn der Unhold nachts im Park nicht in Karate-Grundstellung vor mir steht? Es ist eine Sache, eine fremde Frau nach festgelegten Regeln auf die Oberarme zu hauen – und eine andere, mit einer guten Freundin Tacheles zu reden. Unberechenbarer. Gefährlicher. Weil ich das aber noch immer nicht so genau weiß, und weil ich mir nach wie vor unsicher bin, wie ich da hinkomme, habe ich mich schließlich mit Susanne Westphal zu einem Coaching-Tag verabredet. „Ziehen Sie bequeme Schuhe an, wir laufen um die Außenalster“, hat sie mir beim Vorgespräch vorgeschlagen. Draußen, im Gehen, fällt ihrer Erfahrung nach der Groschen leichter als in sterilen Büroräumen.
Susanne Westphal coacht Führungskräfte in Sachen Kommunikation, gibt aber auch Seminare wie „Durchsetzungskraft für Harmoniesüchtige“. Bingo. Beim ersten Morgen-Macchiato auf dem Bootssteg fragt sie weniger, wo ich herkomme – sie interessiert zunächst vor allem, wo ich hinwill. Ich sage, dass ich im Streit nicht mehr das Gefühl haben möchte, als ganze Person in Frage gestellt zu werden. Sie runzelt besorgt die Brauen. „Dieses Ziel ist wahnsinnig schwer zu erreichen.“ Hilfe: Bin ich etwa ein hoffnungsloser Fall? Nein, beruhigt sie mich: Ich müsse mein Ziel anders formulieren. Positiv, messbar, zeitlich begrenzt. Sie schenkt mir ein Notizbuch, und ich versuche es noch einmal. Schreibe „Ich werde“ statt „ich möchte“, formuliere, wie ich in Konfliktsituationen gerne sein will – souverän und zugewandt statt ängstlich – , gebe mir sogar einen Zeitrahmen vor, bis wann ich eine Veränderung spüren möchte.
Ein richtig guter Anfang, lobt Susanne Westphal. Aber es kommt noch besser. Auf nicht einmal zehn Kilometern Fußweg, zwischen Trauerweiden und großbürgerlichen Villen, dröselt sie mein Problem auf und hilft mir, die Fäden neu zu flechten. Wie ich Zeit gewinne, wenn ich angegriffen werde: In dem ich zuhöre, innerlich Feedback willkommen heiße, nachfrage, ohne mich sofort schuldig zu sprechen. Und gleichzeitig schon die eigenen Argumente im Kopf ordne. Ich lerne auch, dass ich mir für Kritik ein klares Ziel setzen und es verfolgen muss, statt auf halbem Wege einen Rückzieher zu machen – so wie im Gespräch mit der anhänglichen Anke. Mir zwei, drei wichtige Punkte zu überlegen, den innerlichen Vorsprung zu nutzen, statt schwierige Gespräche so lange innerlich durchzuspielen, bis der richtige Zeitpunkt vorbei ist. Irgendwann fragt sie: „Was würde schlimmstenfalls passieren, wenn Sie jemanden angreifen?“ Ganz einfach: Er könnte den Kontakt abbrechen. Oder das Thema könnte auf Dauer die Beziehung vergiften. Sie lächelt. „Genau diese Ängste hätte ich, wenn ich etwas nicht anspreche.“
Am nächsten Tag rufe ich Anke an. Und bin selbst verwundert über meine innere Ruhe. Ich sage ihr, dass ich gerne mit ihr zusammen bin. Aber dass ich mir trotzdem wünsche, sie würde mir mehr Raum lassen. Verstehen, dass mir die viele Zeit, die ich mit ihr verbringe, an anderer Stelle fehlt. Sie hört mir zu. Schimpft nicht, weint nicht, zeigt Verständnis. Es fühlt sich nicht nur für mich gut an, es ist auch, als hielte sie mir einen Spiegel vor: Obwohl ich sie kritisiere, macht sie sich nicht klein. Offensichtlich hat sie besser drauf, was ich gerade erst lerne. Aber ich bin ja auch noch Anfängerin, im Streiten wie im Boxen. Ist übrigens ein super Workout. Nächste Woche kaufe ich mir ein paar Handschuhe.