Mir geht es nicht gut. Und es wird nicht besser. Da ist also wohl ein Arztbesuch angesagt. Blöd nur, dass meine Hausärztin krank ist. So sitze ich dann einem mir völlig unbekannten Mediziner Mitte 50 gegenüber. Er sieht mich nicht an. Nur seinen Bildschirm.”Sie waren ja lange nicht hier, sind sie so gesund?” Ich grinse gequält. Und berichte von meinen Beschwerden. Kein Blickkontakt. Und dann der Satz, der noch lange nachklingt: “Tja, in ihrem Alter ist das ja normal.” Ohne weitere Untersuchung wird mir erklärt, dass seien ganz sicher Wechseljahres-Beschwerden und ich solle doch mal zur Frauenärztin. Ich bin sprachlos. Der hat sich die Diagnose ja leicht gemacht: Olles Weib von fast 48, die kann ja nur mit dem Klimakterium kämpfen.
Diagnose leicht gemacht: “Das ist normal in dem Alter”
Es ist nicht das erste Mal, dass ich so eine ‘Schnell-Diagnose’ bekomme. Die erste Erfahrung hatte ich mit knapp drei Jahren. Da war es eine Arzthelferin, die meine Mutter erst abwimmeln wollte: “Ist doch nur eine leichte Grippe. Das ist normal in dem Alter.” Doch meine Mutter blieb hartnäckig. Sie bestand auf eine Untersuchung. Wahrscheinlich rettete sie mir damit das Leben, denn der Kinderarzt vermutete, dass ich eine Hirnhautentzündung haben könnte und sofort in die Klinik müsse. Er hatte recht. Und auch wenn es ein paar Tage unklar war, ob und wie ich überlebe – hätte meine Mutter auf die ‘Diagnose leicht’ der Helferin gehört, wäre ich sicher nicht hier.
Es geht einfach schnell zu sagen:”Das ist sicher alles psychosomatisch.” Bauchweh mit Anfang 20? Bestimmt nur am Wochenende zu kräftig gefeiert. Haha. “Ja, das ist normal in ihrem Alter. Das Unileben ist halt wild. Legen Sie sich mal hin und packen eine Wärmflasche auf den Bauch.” Der Doktor aus der Abteilung ‘Diagnose leicht’ hatte mich gar nicht weiter untersucht. Ein paar Stunden später lag ich auf dem OP-Tisch, weil mein Blinddarm nicht nur entzündet, sondern schon geplatzt war. Die Wärmflasche war eher nicht so gut. Jahre später erklärte mir ein anderer Arzt, ich wäre sicher nur wegen eines “gelben Scheines” bei ihm. “Das ist normal. Machen fast alle so, wenn sie ihre Magister- oder Diplomarbeit schreiben.” Untersucht hat er mich nicht. “Sie fühlen sich schlapp und antriebslos? Tja, das ist halt der Stress.” War er nicht. Ein weiterer Arzt stellte Pfeiffersches Drüsenfieber fest.
Falsch ernährt, zu wenig geschlafen und die Hormone – so einfach geht die Diagnose
Irgendwann würde das mit solchen Diagnosen aufhören, dachte ich früher. Doch ich täuschte mich. Mein zertrümmerter Ellenbogen mit schweren Knochenbruch – da wurde tatsächlich nicht gesagt, dass sei ja normal. Aber später? “Ist eben so in der Schwangerschaft, dass der Rücken weh tut.” Es war ein eingeklemmter Nerv, und der hatte rein gar nichts mit Hormonen zu tun. Und heute? Da sitze ich also im Behandlungsraum und muss schon wieder hören, “Das ist normal in ihrem Alter”. Zwei Tage später gesellt sich zum unangenehmen Schwindelgefühl und dem Druck auf den Ohren Fieber und eine Erkältung. Und auch die Kinder zeigen Symptome. Tatsächlich ein grippaler Infekt. Normal – für diese Jahreszeit. Aber mit dem Alter hat das gar nicht zu tun.
Solche Schnell-Diagnosen ärgern mich. Denn sie sind nicht lustig. Es ist eben nicht alles einfach auf Jugend, Frausein, Stress oder falsche Ernährung zu schieben. Leider führen solche leichtfertigen Urteile dazu, dass einige Menschen sich mit Krankheiten herumplagen, die gut behandelt werden können – wenn sie erkannt werden. Im eher guten Fall – etwa bei meinem Drüsenfieber – kann die Krankheit länger dauern, weil ich ja glaubte nicht wirklich krank zu sein und mich nicht schonte. Im schlechteren Fall können solche Diagnosen dazu führen, dass ein Blinddarm platzt oder sogar Krebs zu spät erkannt wird.
Ob ich diesen Satz: “Das ist normal in ihrem Alter …” wieder hören werde? Vermutlich schon. Älter werden ist nichts für Feiglinge. Aber ganz sicher hole ich mir dann eine zweite Diagnose. Es gibt schließlich verschiedene Arzttypen. Und gesunde Skepsis, die ist wirklich normal in meinem Alter!