„Mama, wann kommen denn die Frischlinge?“ fragt der 5jährige aufgeregt. „Das heißt Flüchtlinge!“, verbessert ihn die Nachbarstochter. „Sag ich doch! Früchtlinge!“ Die Aufregung ist groß, denn es werden Gäste erwartet. Drei Jungen im Alter von 13, 18 und 21 Jahren aus Pakistan übernachten nun im freiwillig geräumten Kinderzimmer.
Nur für die beiden Brüder und ihren gerade 21jährigen Onkel hat das Geld der Familie gereicht. Die drei haben alleine ein Land verlassen, in dem es religiöse Verfolgung, Todesdrohungen und Attentate von Taliban-Milizen gibt. Alle drei Jungen erhielten Morddrohungen, der Bruder des Ältesten wurde ermordet. Nun sind sie nach langer Flucht in Berlin angekommen. Zunächst ohne eine Unterkunft. Doch nun wurden sie von Tanya Neufeldt, ihrem Mann und ihrem Sohn aufgenommen.
Die Schauspielerin und Autorin des Blogs “Lucie Marshall” engagierte sich schon vorher für Flüchtlinge. “Als ich las, wie schlimm es um die Erstaufnahmestelle in Moabit steht, bin ich sofort hingefahren”, sagt die 42jährige. Sie war geschockt. Nur knapp drei Kilometer Luftlinie von ihrer eigenen gemütlichen Welt mitten in Berlin hatten Hunderte von Menschen nichts zu trinken oder zu essen. “Die lagen nach einer für uns unvorstellbar strapaziösen und schrecklichen Flucht im Dreck und auf Pappen. Da gab es für mich gar keine andere Option, als vor Ort möglichst viel zu unterstützen.”
Tanya half mit in der Unterkunft, sammelte Kleidung und andere dringende benötigte Dinge bei Freunden und Bekannten. “Es ist erschreckend zu hören, was die Menschen alles riskieren, um hier herzukommen. Was sie erleben, mit welchem Gleichmut sie ihr Schicksal ertragen und wie dankbar und höflich die allergrößte Mehrheit dabei bleibt”, berichtet sie. Die Notunterkünfte in Berlin sind hoffnungslos überfüllt. “Von einem Tag auf den anderen lagen plötzlich Familien mit kleinen Kindern im Park, aber natürlich vor allem Männer, die oft als Erste die gefährliche Flucht antreten, um dann die Familie nachzuholen. Für mich und meinen Mann war klar, dass wir da unsere Hilfe anbieten wollen. Müssen.”
Die Verständigung mit den Jungen funktioniert mit Händen und Füßen und Englisch. Nach einem ersten gemeinsamen Essen wollten die drei unbedingt ein Spaziergang machen. Ob sie sich vielleicht allein verlaufen? Tanyas Mann erklärt pragmatisch: „Die sind von Pakistan über den Iran, von der Türkei mit dem Boot nach Griechenland, dann über Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gelaufen. Berlin-Mitte wird kein Problem für sie sein.”
Leicht ist der Alltag mit den drei Jungen aber nicht immer.”Pubertät in Kombination mit den Eindrücken von der Flucht, das ist keine einfache Mischung”, sagt Tanya. “Und natürlich sind sie anders sozialisiert. Das fängt beim Rollenbild von Mann und Frau an und hört damit auf, wie man ein Badezimmer hinterlässt.” Sie hören zwar auf Tanya, doch das Wort ihres Mannes habe mehr Gewicht. Sie sind sehr bemüht, alle drei. “Sie kochen fantastisch und haben am ersten Tag gleich einen pakistanischen Lebensmittelladen entdeckt und kochen nun gern für uns. Das ist ein Hochgenuss.” Ihrem kleinem Gastbruder haben sie schon beigebracht, wie in Pakistan mit Murmeln gespielt wird.
Unglaublich berührende Eindrücke und großer Respekt
Auch andere enge Freunde und Bekannte beherbergen Gäste. “Die Resonanz ist grundsätzlich mehr als positiv. Man wird bekocht, erhält unglaublich berührende neue Eindrücke und man erfährt großen Respekt und Dankbarkeit. Eine die beschämt, denn wir geben so wenig im Vergleich zu dem, was sie riskieren.”
Tanya weiß nicht, wie lange die drei Jungen bleiben werden. Ihre Mutter und ihre Oma konnten sie per Skype erreichen. “Die warfen uns Luftküsse zu und bedanken sich unter Tränen, dass wir uns um die Jungen kümmern.” Wie es für die Jungen weitergehen wird? Das ist noch unklar. “Ich denke, sie haben noch einen sehr steinigen Weg vor sich in unserem Land, “sagt Tanya. “Die Behörden heißen sie nicht willkommen, sondern erschweren ihnen eher das Leben. Das macht mich unglaublich sauer, wie sehr hier alle in der Luft gehalten werden und man sie wie ein Paket von A nach B schickt. Wir holen uns jetzt gerade Beratung bei einem Anwalt. Es ist kompliziert, sich durch dieses System zu wühlen.”
Es sei wichtig, dass die Flüchtlinge bald ein Zuhaus fänden, betont Tanya Neufeldt. “Die Menschen müssen so schnell wie möglich verwurzelt werden und nicht drei Monate lang in künstlichem Stillstand gehalten werden.” Wichtig seien Deutschunterricht für alle, Schulklassen für die Kinder und Therapien, die helfen Traumata aufzuarbeiten. “Hilfe im Herkunftsland und Hilfe bei uns vor Ort ist nötig. Das muss Hand in Hand gehen.”
Die Flüchtlinge brauchen unsere Unterstützung
Es sind viele kleine Dinge, die helfen. Blumen, die zu einer Flüchtlingsunterkunft gebracht werden. Denn irgendwer hat immer Geburtstag. Eine Sammlung für Stoffe und Wolle, damit Frauen selbst stricken und häkeln können. Beschäftigung für die Hände. Genau das ist auch wichtig: Seelenfutter.
Für den einen mag das ein Gedichtband sein, der nächste braucht Papier zum Malen oder Schreiben. Oder Musik. Letzte Woche suchte eine befreundete Anwältin, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut, etwas für einen ihrer “Jungs”. Ein 16jähriger aus Afghanistan musste ein Attentat erleben, verlor die Familie und ist nun allein in Deutschland. Sein sehnlichster Wunsch: eine Rubab. Ein spezielles Instrument. Ganz schnell boten sich Helfer über die sozialen Netzwerke an. Ein Instrument wurde gefunden und wunderbare Menschen spendeten. Es dauerte keine zwei Tage, und jetzt kann die Betreuerin sogar allen Kindern, für die sie zuständig ist, einen Herzenswunsch erfüllen. Die Jüngste ist fünf, sie wurde während der Flucht in Griechenland von ihren Eltern getrennt. Nun bekommt sie ein Puppenhaus.
In vielen Kommunen und Städten gibt es Flüchtlingsheime. Wer Zeit spenden möchte, kann in Kleiderkammern aushelfen, Ausflüge, Malkurse oder Feste für neue und alte Nachbarn organisieren. Ein solches Fest fand in Hamburg bei den Messehallen, einer Erstunterkunft, statt. Die Fotografin Daniela Merz hat eindrucksvolle Bilder aufgenommen, die zeigen, wie wichtig Musik, gemeinsames Spielen und Lachen sind.
#BloggerfuerFluechtlinge – Gemeinsam helfen
Es ist gerade erst eine knappe Woche her, dass eine Gruppe Blogger überlegt hat, wie Hilfe aussehen kann. Gemeinsam stark sein und Helfen, in dem jeder der beteiligten Blogger berichtet und auf die Kampagne aufmerksam macht. Mittlerweile nehmen über 1400 Blogger auf Facebook und 100 Blogger auf der Website von Blogger für Flüchtlinge teil. Auf der Website sind Informationen für alle Interessierten gebündelt, Berichte und Links zu Anlaufstellen. Vor allem kann jeder hier auch spenden. Auch wir von 40-something.de unterstützen die Aktion !
Die BloggerFuerFluechtlinge arbeiten eng mit mit Betterplace.org zusammen. So können alle finanziellen Spenden transparent gemacht und an verschiedene Projekte bundesweit verteilt werden. „Wir leiten die Spenden an eine gute Mischung aus Soforthilfe für neu angekommene Flüchtlinge, beispielsweise in Hamburg an den Messehallen oder Berlin am LaGeSo und längerfristig angelegten Projekten, wie Sprachkursen für Flüchtlinge und Kinder-Integrationshilfe weiter,“ sagt Björn Lampe, Vorstand von Betterplace.
Wer gern Dinge oder Zeit spenden möchte, findet auf der Website Blogger für Flüchtlinge ebenfalls Anlaufstellen. Die schnelle und engagierte Hilfe vieler Menschen, wie jetzt gerade an den Bahnhöfen, ist ein wichtiges Zeichen! Willkommen in Deutschland!
Willkommen, neue Nachbarn, sehr bald auch hier am Hamburger Stadtrand. Was es bedeutet, wenn 1500 Flüchtlinge in einer Erstunterkunft in einem Vorort aufgenommen werden, das ist hier zu lesen: “Flüchtlingshilfe: einfach da sein”