Neulich Mittag bin ich mal wieder ins Leere gestolpert. Das lag weder am Kopfsteinpflaster noch an meinen Schuhen, sondern an einer Begegnung mit einem Exkollegen. Und an diesem kleinen Rechenprogramm in meinem Kopf, das leider zu Fehleinschätzungen neigt. Zum Beispiel diese: „Holger weiß, wie du deinen Kaffee trinkst und wie du am Morgen nach einer langen Verlagsparty aussiehst. Du darfst den Mann jetzt küssen.“ Holgers Programm spuckte dagegen folgendes aus: „Verena, das war doch diese Büronachbarin, die viel Milch mit wenig Kaffee trinkt und auf Firmenpartys gerne lange bleibt. Du darfst jetzt mal grüßend die Hand heben.“ Jedenfalls war da, wo ich Holgers Wange vermutete, nur Luft. Dann kamen sich auch noch unsere Nasen in die Quere. Bitte nicht falsch verstehen: Holger ist wirklich nur ein netter Exkollege und genau so glücklich verheiratet wie ich. Wir sind nur die gemeinsamen Opfer einer grassierenden Unsicherheit: Wie, um Himmelswillen, begrüßen sich heute eigentlich erwachsene Menschen Ü40?
Es gibt Situationen, in denen ist das ganz einfach. Aber sie werden weniger. Dass ich meiner Kreditberaterin oder meinem Hausarzt die Hand gebe, ist klar. Auch unter Fußballverein-Miteltern ist das Reihum-Handschütteln noch ziemlich en vogue. Umarmt werden Partner, nahe Verwandte, gute Freunde. Auch klar. Aber was ist zum Beispiel mit Freunden von Freunden? Hand heben, Hand schütteln, küssen? Wenn ja, wie oft? Einmal auf die Wange wie in Hamburg, zweimal in die Luft wie in München, dreimal freestyle wie in der Schweiz? Wie begrüßt man einen 15jährigen Neffen? Puffen, knuffen, Schulterhauen – korrekt oder krass? Und was sagt Youtube zu diesem Problem? Nur Feiglinge gehen dem Grüß-Problem aus dem Weg, in dem sie einfach die Straßenseite wechseln.
Begrüßungsrituale: Selbst nach Stadtteil sind sie verschieden
Und damit ist das Problem der Begrüßungsrituale nur grob umrissen. Zusätzlich macht es auch noch einen Unterschied, wo man die Leute triff. Brunch, Raumspraykaufen im Drogeriemarkt, Kindergarten. A propos: Eine Freundin, die kürzlich vom eher alternativen Altona ins gediegene Blankenese zog, musste sich von der Erzieherin an der Grundschule ihrer Tochter rüffeln lassen. Wegen vorschneller Duzerei. Auch noch so ein Thema. In den Elbvororten gilt noch immer die Dienstmädchen-Anrede: „Yvette, könnten Sie bitte dafür sorgen, dass mein Kind genügend Rohkost zu sich nimmt?“ In den einschlägigen Vierteln zwischen Altona und Prenzlauer Berg klingt ein Dialog zwischen Erzieher und abholendem Papa dagegen eher so: „Ey Mike, soll ich dir zum Sommerfest das neue Demotape von meiner Band mitbringen?“
Woher kommt diese Schwierigkeit, den richtigen Ton zu treffen? Vielleicht liegt es daran, dass in unserem Leben die Grenzen zwischen Innen- und Außenbereich immer mehr verwischen. Wenn Freiberufler ihrer Tätigkeit mit Laptop und Smartphone vom Beachclub aus nachgehen – was ist dann Arbeit, was ist Freizeit? Wenn durchgeknallte Präsidenten morgens um sieben bei Twitter auf der Maus ausrutschen – was ist dann noch privat? Und apropos Präsident, da ist ja auch noch die verflixte Globalisierung. Da muss ja dem armen Rechenprogramm im Kopf alles durcheinander geraten: italienische Wangenküsse, angelsächsische Chefduzerei, hanseatische Halbdistanz.
Vielleicht wären dezent farbige Armbinden eine Lösung. Rosa für „Ich küsse gerne!“, sylt-marineblau für „Händedruck erwünscht.“ Prilblumengelb für „Du kannst du zu mir sagen“, lodengrün für „für Sie immer noch Frau Carl.“ Jedenfalls käme man dann bei zufälligen Begegnungen in der Fußgängerzone nicht mehr so schnell ins Stolpern. Aber bloß nicht spontan gemeinsam Kaffeetrinken gehen! Die Bedienung wird beleidigt sein. So oder so. Entweder, weil man sie duzt. Oder weil man sie siezt.