Autos ohne Kennzeichen, ein Navi, das nur chinesisch spricht und ein Fahrstil wie beim American Football: Gastautorin Marion Wollinsky wagt sich im Stadtverkehr von Schanghai trotzdem ans Steuer. Ihre Nachbarin sagt: Du bist eine mutige Frau. Das finden wir auch ….
„Wo keine Briefmarke mehr Platz findet, passt immer noch ein Chinese dazwischen!“ – als ich vor einigen Monaten nach Schanghai zog, hielt ich solche Sprüche für ein dummes Klischee. Heute weiß ich es besser. Denn seit kurzem besitze ich einen chinesischen Führerschein. Und weiß: mit meinem deutschen, defensiven Fahrstil bin ich hier verloren. Schließlich habe ich mich nicht aus puren Vergnügen in dieses Abenteuer gestürzt, sondern eher aus Notwendigkeit: Wer 16 Kilometer außerhalb des Zentrums einer 28-Millionen-Metropole lebt, in der Taxis bei Regen auf mysteriöse Weise vom Erdboden verschluckt werden, dem bleibt kaum eine andere Wahl. Also: Autofahren in Schanghai.
Einen chinesischen Führerschein kann ein Ausländer nur dann erwerben, wenn er eine Aufenthaltsgenehmigung von über sechs Monaten hat und bereits einen Führerschein aus einem anderen Land besitzt. Dann reicht eine theoretische Prüfung. Nun ja, wenigstens in der Theorie. In der Praxis sieht das so aus: Dokumente übersetzen und beglaubigen lassen, gefühlte hundert Passbilder machen lassen, und dann zum medizinischen Test. Die Blutdruckmanschette legt man mir über dem Mantel an, dann muss ich eine Kniebeuge machen und werde daraufhin für körperlich fit befunden. Da wundert es mich auch nicht mehr, dass mein offensichtlich farbenblinder Vorgänger den Sehtest besteht.
Führerscheinprüfung für Neu-Chinesen
Allerdings: Die Prüfung selbst hat es dann doch in sich. 1200 Fragen in abenteuerlicher Übersetzung warten auf mich. Mein Favorit: „Mit Bein- und Wirbelsäulenfraktur Wounded sollte in der Regel nicht verschoben werden.“ Richtig oder falsch? Kein Wunder, dass andere Neu-Chinesen wie ich die Prüfung bis zu acht Mal wiederholen mussten, wenn ich ihren Erzählungen glauben darf. Deshalb komme ich auch ganz schön ins Schwitzen, als es soweit ist. In einem Behörden-Hinterzimmer werden mir Fragen in noch weit abenteuerlicher übersetzten Formulierungen vorgelegt, zwischendrin schrillt ein Telefon. Einer der Beamten hebt den Hörer auf und unterhält sich in ohrenbetäubender Lautstärke. Konzentrierte Prüfungsatmosphäre? Nix da. Nach 60 Minuten kündigt mir der Computer schließlich das Ende des Tests an. Ich falle fast vor Erleichterung vom Stuhl: 92 Fragen von 100 richtig. Die herbeieilende Prüferin zeigt mir unverhohlen ihr Erstaunen: „Sie haben bestanden?!“
Ich bin dann auch mehr als stolz, als ich ihn in den Händen halte: Den neuen Führerschein mit meinem Namen in chinesischer Schrift. Doch zum Feiern bleibt keine Zeit, denn es geht gleich direkt zum Fuhrpark weiter, wo ein Auto für mich bereit steht. Mit Kennzeichen. Klingt normal, ist aber ein großer Luxus und ist auch nur möglich, da wir von einem Autokonzern nach China entsandt sind. Denn um die stets steigenden Autozahlen unter Kontrolle zu bringen, hat die chinesische Regierung schon seit einiger Zeit die Ausgabe von Nummernschildern reglementiert. Inzwischen werden 10.000 Euro und mehr dafür bezahlt und die meisten Bewerber gehen leer aus. So wundert es einen nicht, dass auf den Straßen viele Autos unten ohne unterwegs sind.
Kein Verlass aufs Navi
Die Fuhrparkmitarbeiterin gibt unsere Adresse ins Navigationssystem ein, und ich fahre mit weichen Knien los. 20 Kilometer nach Hause, das sollte zu schaffen sein, oder? Doch schon an der ersten Kreuzung verlangt die freundliche Stimme, dass ich einen U-Turn machen soll. Und noch einen. Bis ich erkenne, dass der rote Pfeil statt auf der Straße irgendwo im Nirwana herumschlingert und selbst nicht so genau zu wissen scheint, wo wir gerade sind. Verunsichert rufe ich meinen Mann an. Der bleibt cool. „Dann ist das Navi kaputt. Bring das Auto zurück.“ Ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin schaffe ich es, nach Hause zu kommen. Irgendwie. Meine Nachbarin Xuesong sieht mich aus dem Auto steigen und ist voller Bewunderung: „Du bist wirklich eine sehr mutige Frau!“
Xuesong ist es auch, die mir schließlich alles beibringt, was man übers Autofahren in Schanghai wissen muss. Überlebens-Lektionen, die in keiner seltsam übersetzten Testfrage auftaucht. Nummer eins: „Wenn du die Spur wechseln willst, bloß nicht blinken, sonst lässt dich garantiert niemand hinein. Du musst einfach ausscheren, auch wenn du glaubst, dass kein Platz dafür da ist!“
Autofahren in Schanghai: Stoßstange an Stoßstange
Nummer zwei: grundsätzlich Stoßstange an Stoßstange fahren, drängeln, drücken, und Begrenzungslinien nur als freundliche Hinweise, aber nicht als Vorschrift verstehen. Nummer drei: Bloß nicht an der Fußgängerampel anhalten. „Das macht hier niemand und wenn du bremst, wird der Hintermann in dich hineinfahren.“ Nein, das bringe ich dann doch nicht über mich. Wir sind an einer Schule und ich lasse die Menge die Fahrbahn überqueren. Prompt erschallt von hinten ein Hupkonzert, Reifen quietschen, mein Hintermann überholt und fährt den Fußgängern fast über die Zehen.
Mittlerweile habe ich meine deutsche Regelgläubigkeit fast völlig abgelegt, dafür aber meine Aufmerksamkeit für völlig unerwartete Situationen geschärft: Autos, die mitten in der Fahrt eine Vollbremsung machen oder die Fahrbahn plötzlich über mehrere Spuren queren; Fahrer, die auf der Autobahn den Rückwärtsgang einlegen, weil sie die Ausfahrt verpasst haben; Wagen, die entgegen gesetzt der Fahrtrichtung fahren.
Was man beim Autofahren im Ausland lernen kann
Nachdem ich mittlerweile in vielen Ländern Auto gefahren bin, komme ich mehr und mehr zu der Überzeugung: Im Straßenverkehr lernt man mehr über die Mentalität der Bewohner als in jeder anderen Alltagssituation. Deutsche verwandeln sich im eigenen Wagen in Privatpolizisten, die nicht nur schimpfen, sondern schon mal aussteigen, um andere zu belehren. Mir ist es schon ein paar Mal passiert, dass Fußgänger stehen blieben, um mich beim Einparken zu beobachten, damit ich auch ja keine anderen Autos anremple. Ganz anders war meine Erfahrung in den Jahren, in denen ich in Bangkok lebte. Der Verkehr dort passt zu den Thais: Man wurschtelt sich durch, versucht durch die Menge seinen Weg zu finden und ist dabei meist nachsichtig. Einfädeln ist kein Problem – anders als in China. Rücksichtsloses Vorankommen ist die Devise. Dafür wird dann gerne auch mal eine zusätzliche Spur kreiert, die für die Straßen gar nicht vorgesehen war.
Dabei empfinde ich die Chinesen im täglichen Umgang als sehr freundlich, und Leute, die im Auto lauthals schimpfen, wird man hier auch selten vorfinden. Aber bei fast 1,4 Milliarden Menschen ist der Konkurrenzdruck in allen Lebensbereichen hoch. Ellenbogen auszufahren, den anderen wegdrücken und überholen – auf der Straße und anderswo. Unangenehm? Ja, aber nicht nur. Vielleicht will mir das Leben damit auch eine Lektion erteilen, die nicht nur mit dem Autofahren zu tun hat: Sei nicht immer zu nachgiebig, lass nicht immer allen anderen den Vorrang und drängle dich doch auch mal ganz frech nach vorne! Also sehe ich es sportlich. Das Fahren. Und das Leben.
Gast-Autorin Marion Wollinsky, 45, lebt nach Auslandsstationen in Bangkok und Budapest seit drei Monaten mit Mann und Kind in Schanghai. Nach zwölf Jahren redaktioneller und beratender Tätigkeit für verschiedene Medien arbeitet sie mittlerweile als Yogalehrerin und Coach.
Sehr schöner Artikel:)), und tolle Beschreibung wie der Charakter der Menschen dem Fahrstil gleicht… Liebe Grüße nach Shanghai!
Haha! Klasse! Marion, der Artikel ist super und du nicht nur eine mutige, sondern auch eine weise Frau!