Ganz schön dick ist das Fohlen geworden. Damals, als ich selbst ein Kind war und dem Tier gerade mal bis zum Bauch reichte, war es ein zartgliedriges Standbild, auf einem grünen Platz im Freiburger Stadtteil Wiehre. Wie wohl alle Kinder des Viertels habe ich viele Stunden damit verbracht, auf dem Rücken des Fohlens in Phantasiewelten zu reiten. Als ich ganz klein war, mussten mir meine Mutter oder meine Großmutter hochhelfen, später konnte ich es allein.
Jetzt, 40 Jahre später, ist das Pferdchen nicht mehr wieder zu erkennen: In den Achtzigern hat mal irgendein Witzbold damit angefangen, dem Tier ein buntes Outfit aufzusprühen, seither haben die Verschönerungsversuche nicht mehr aufgehört. Das Pferdchen war Zebra, Zirkuspferd, warb für gute und weniger gute Zwecke, wurde irgendwann mal verpackt wie von Künstler Christo, und mittlerweile sind seine zarten Formen unter den hunderten von dicken Farbschichten kaum noch auszumachen. „Aus dem Leim gegangen“ wäre noch die freundlichste Formulierung.
„Erzähl noch mal, Mama!“, bittet meine Tochter. „Wie war das damals?“ Wie das damals aussah, sich anfühlte, roch; welche Wege ich ging und was ich sah, wenn ich aus dem Klassenzimmerfenster schaute, das alles wollte Helen wissen. Einen Ausflug in die Kindheit machen, in meine Kindheit. Und genau diese Neugier hat mich am vorherigen Wochenende nach Freiburg geführt, wo ich die ersten 20 Jahre meines Lebens verbracht habe. Nicht nur dahin, wo die Besucher sich sammeln, nicht nur auf den Münsterplatz und durch die Innenstadtgassen, sondern auch zu meiner alten Grundschule, dem Kindergarten, dem Haus, in dessen Garten ich als Kind Ostereier suchte und das schon lange einer anderen Familie gehört.
Der Ausflug in die Kindheit ist ein seltsames Wiedersehen. Denn die Stadt, in der ich sprechen, laufen, lesen und schreiben gelernt habe, fühlt sich bei meinen seltenen Besuchen immer ein wenig so an, als wäre sie in einer Zeitkapsel verborgen. Als wäre ich da, mittendrin, und gleichzeitig weit weg. Als wäre ich plötzlich wieder neunzehn und gleichzeitig uralt.
Ausflug in die Kindheit: vertraut und doch so fremd
Unendlich vertraut einerseits: Das Klingeln der Straßenbahnen, die bunten Sandsteinfassaden der Häuser, das Plätschern der Bächlein, die viele Freiburger Innenstadtstraßen säumen, die weichen Laute im Dialekt. Überall Schauplätze von Erinnerungen: Da, der Hölderlebach, an dem mir meine Großmutter mein Lieblingsspiel gezeigt hat: Jeder wirft ein Blättchen von der einen Seite der Brücke und dann rast man zur anderen Seiten und schaut, welches am schnellsten ankommt! Die Hochschule, auf der meine Mutter nochmal studiert hat, als ich in der Grundschule war; die Betongebäude, zwischen denen sie mir strahlend entgegen lief: Prüfung bestanden, ich hab eine eins, dein Daumendrücken hat geholfen!
Da, die Terrasse auf dem Schlossberg, auf der ich 1985 nach dem Weinfest mit Thomas aus der 11b geknutscht habe! Der Schulhof, auf dem ich irgendwann stand, wie elektrisch aufgeladen, das Abizeugnis in der Hand und das Gefühl totaler Freiheit im Herzen. Und selbst „Lazzarin“ am Münsterplatz ist noch immer da, auch wenn die Kugel Eis mittlerweile nicht mehr für 25 Pfennig zu haben ist.
An anderen Plätzen ist die Stadt unendlich fremd: weil ich seit über 20 Jahren nicht mehr dort lebe (und schon lange keine Verwandtschaft mehr dort habe), weil die Straßen, die Plätze, die grünen Schwarzwald-Höhenzüge nicht mehr den Hintergrund meiner eigenen Bühne bilden, weil hier das Leben ohne mich weitergeht. Meine Freiburger Zeit ist mehr oder weniger 1989 stehen geblieben, als das Tagungszentrum hinter dem Bahnhof gebaut wurde. Gegen das wir – natürlich! – bei einer Volksbefragung stimmten, weil es irgendwas mit dem bösen Monopolkapitalismus zu tun hatte. Ganz genau hätten wir auch nicht sagen können, was. Mittlerweile ist das Ding schon ein wenig in die Jahre gekommen. Eine späte Genugtuung.
Gebäude, Einkaufszentren, Brücken, die den Bewohnern heute selbstverständlich sind, kommen mir vor wie Ufos aus dem All. Was macht denn diese komische Mall auf dem alten Messeplatz? Da müsste es doch nach Zuckerwatte duften, und picklige Jungs in billigen Lederjacken müssten für Teenie-Mädchen Plastikrosen schießen, drei Schuss eine Mark, und vom Riesenrad aus sähe man bis zu den Hochhäusern von Haslach.
Der beste Ort für Erinnerungen: wir selbst
Ganz zum Schluss unseres Ausfluges wollte meine Tochter gerne noch ein Blümchen auf den Friedhof bringen. Für ihre Urgroßmutter, meine Großmutter, die acht Jahre vor Helens Geburt gestorben ist, und von der ich ihr manchmal erzähle. Auch, weil ich glaube, dass Helen und sie sich gut verstanden hätten. Weil meine Großmutter genau so exzentrisch, kreativ, dünnhäutig sein konnte wie ich es von meiner Tochter kenne. Wir irrten zwischen den Kieswegen herum, suchten das Grab vergeblich, gaben es irgendwann auf.
Wir setzen uns auf eine große grüne Sommerwiese hinter dem Eingang des Friedhofs. Meine Tochter weinte und sagte: „Ich weiß gar nicht, warum ich so traurig bin, ich kannte sie doch gar nicht.“ Ich nahm sie in den Arm und mir fiel plötzlich wieder ein, wie ich als Vierjährige manchmal mit meiner Großmutter an dieser Friedhofswiese entlangging, eine von uns links- , eine rechtsherum, in einer Schleife, die uns erst trennte und dann wieder zusammenführte. Davon habe ich meiner Tochter erzählt, wie aufregend ich diese ersten, 20 Meter kurzen Wege allein fand und wie schön das Wiedersehen, und plötzlich wussten wir beide, dass die Wiese genau der richtige Platz war, um das Blümchen abzulegen und an sie zu denken.
Weil es ohnehin keinen festen Platz gibt für Erinnerungen, kein Museum für das, was wir waren und was uns zu dem gemacht hat, das wir sind. Manchmal fühle ich mich ja selbst wie dieses steinerne Pferdchen unter vielen Farbschichten, zugekleistert mit immer neuen Lagen von Erinnerungen, Erfahrungen, Beziehungen. Aber dann komme ich wieder an einen Ort wie diesen und spüre: Unter all diesen Schichten, den bunten wie den düsteren, steckt ein Fohlen mit langen Beinen. Ein junges Tier, das einfach losstürmen möchte. Vielleicht sind wir am meisten wir selbst, wenn wir es vom Zügel lassen und ihm ins Ohr flüstern: lauf!
Mehr zum Thema Heimatgefühle hat Verena neulich nach einem Besuch bei ihrem Vater und ihren Halbschwestern hier aufgeschrieben