Diese Geschichte ist eigentlich eine Weihnachtsgeschichte. Und Schuld ist nur der Glühwein. Weil der schönste Stand in der Fußgängerzone unseres Hamburger Wohnviertels nun mal der so genannte “Tallinn”-Stand ist. Skandinavisch, hölzern, rot lackiert und nicht nur mit dem leckersten Getränk, sondern auch jedes Jahr in der Adventszeit mit schicken Fotos dekoriert: von mittelalterlichen Stadtmauern, einem weiten, offenen Marktplatz mit puderfarbenen Häuschen und fast direkt dahinter die knallblaue Ostsee. Da sollten wir auch mal hin, sagen wir dann jedes Jahr und nippen am fruchtigen, estnischen “Höögvein”. Jetzt haben wir’s endlich wahr gemacht und festgestellt: Die Hauptstadt Estlands, etwa auf einer Höhe mit Helsinki und Stockholm, muss man sich nicht schön trinken. Das ist die schon von ganz allein. Zehn gute Gründe, ganz schnell ein Ticket für einen Citytrip Tallinn zu buchen:
- Weiße Nächte, jetzt: Abends um elf auf dem Marktplatz sitzen, der blauen Stunde beim immer blauer werden zuschauen, irgendwann nicht mehr glauben, dass es jemals dunkel wird, sich kurz wundern, dass doch – aber nur für drei, vier Stunden. Und das ist Mai – da geht noch was! Tallinn bei schönem Wetter rund um Mittsommer ist ein Traum.
- Mittelalter meets Hightech: Fette Stadtmauern mit nicht minder fetten Stadttoren, High-Heel-Killer-Kopfsteinpflaster, Befestigungsanlagen: Steigt man auf dem Aussichtsturm der Olafskirche in der Tallinner Altstadt, sieht das ein bisschen aus wie das Spielfeld des Strategiespiels “Carcassonne”. Oder wie ein Filmset aus Game of Thrones, nur deutlich friedlicher. Kaum eine Stadt in Europa kann mit einem derart gut erhaltenen mittelalterlichen Kern aufwarten, 1997 wurde die Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Gleichzeitig sind die Esten eine führende IT-Nation in Europa, und das merkt man: überall freies Wi-Fi, und es kann passieren, dass selbst die Bierbude kein Wechselgeld hat, weil man selbst Centbeträge mit Karte bezahlen kann. Außer in der Straßenbahn, da reicht man ganz altmodisch Zwei-Euro-Münzen durch einen Bezahlschlitz zum Schaffner.
Citytrip Tallinn: tiefenentspannt, hip, überraschend
- Vorteil für Flaneure: Die Altstadt und der Domberg (“Toompea”) sind von einer handlichen Größe – keine zehn Minuten, und man hat das Areal einmal von Nord nach Süd durchquert. Dass man trotzdem stundenlang dafür braucht, liegt daran, dass Tallinn so tiefenentspannt ist: Kaum Autoverkehr in der Altstadt, überall locken Straßencafés, Innenhöfe, Kirchlein und kleine Galerien zum Verweilen. Spätestens nach fünf Minuten geht der Atem ganz von alleine tiefer und der innere Tempomat schaltet von “Zack, Zack” auf “immer mit der Ruhe” um. Sehr sehenswert nicht nur für einen Regentag: Das interaktive Museum für estnische Geschichte, in der großen Gildenhalle, das auf vielfältige Weise Alltagsleben, die Erfahrung verschiedener Besatzungszeiten, die estnische Sprache und die ganz besondere Glaubenswelt des Minivolkes (nur 1,3 Millionen insgesamt!) wiedergibt.
- Allerneueste nordische Küche: Ja, man kann in Tallinn auch fürchterlich langweilig essen: Spaghetti, Pizza Margarita und Cesars’ Salad gibt’s an jeder Straßenecke. Aber warum sollte man, wenn man stattdessen die besondere Variante der nordischen Küche kosten darf: Die Esten haben eine unvergleichliche Art des Crossover geschaffen, zwischen regional (Hering, Preiselbeeren, Schwarzbrot mit Brennesselbutter) und international (Hummus, orientalische Linsen & Co), zwischen deftig-fleischhaltig und vegan. Schönstes Beispiel für estnische Fusion-Küche: Das Restaurant Von Krahli Aed, eine Art verwunschener Indoor-Garten im Shabby Chic. Allein schon die Vorspeise namens “Estonian Landscape on a plate” lohnt den Weg, reservieren ist ratsam.
- Chill mal dein Leben: Nach dem Essen, an Regentagen oder einfach zwischendurch: Tallinns Altstadt ist voll von extrem plüschigen Kneipen, in denen es sich ein wenig sitzt wie in den Berliner Wohnzimmerclubs der Neunziger – oder in der eigenen WG-Küche vor 20 Jahren. Einer der nettesten ist im 2. Stock über einer Einkaufsstraße und heißt aus naheliegenden Gründen “Sessel” – man kann aber auch auf dicken Kissen auf dem Fensterbrett sitzen und die Beine über die Einkaufsstraße baumeln lassen.
- Also, diese Sprache!: Was heißt “Püha”: (a) estnischer Stoßseufzer nach dem dritten Glühwein, (b) deutsche Abkürzung für Pürierstabhalter, sächsische Herkunft, (c): heilig? Jawoll, natürlich ist c richtig. Estnisch gehört wie ungarisch und finnisch zu den finno-ugrischen Sprachen, man kann sich auf Schritt und Tritt über lustige Konsonantengebilde beömmeln, versteht kein Wort und ist am Ende des Tages sehr dankbar, dass Esten hervorragend englisch sprechen.
- Bye-Bye, Bachelor: Prag, Budapest, Barcelona: überall die selbe Seuche. Im Mai/Juni sind die Junggesellinnen und Junggesellen los, um Abschied zu feiern, vorzugsweise in Städten, die von britischen Billig-Airlines angesteuert werden. Dabei sind sie meist ziemlich, äh, laut. Die gute Nachricht: Dass auch ein Citytrip Tallinn hervorragend geeignet ist, um’s vor der Ehe nochmal krachen zu lassen, hat sich noch nicht ganz so weit rumgesprochen. Also hin, ehe es zu spät ist.
Ostsee, skandinavisches Design und königliche Parks
- Pflaster und Strand: Zu Ostblockzeiten war die Ostsee eine No-Go-Zone, der Hafen Sperrgebiet für Normalsterbliche – man wollte schließlich nicht, dass Arbeiter und Bauern einfach rübermachten nach Finnland oder in andere kapitalistische Wunschorte. Das ist schon lang Geschichte: In den letzten Jahren sind entlang des Hafens Spazierwege und Promenaden entstanden, an lässigen Buden gibt’s kalte Getränke und frittierten Fisch. Einzige Kehrseite der Medaille: Wenn gleich mehrere Jumbo-Kreuzfahrtsschiffe im Hafen landen, wird’s in der Innenstadt kurzfristig mal sehr rummelig – das gibt sich aber nachmittags wieder.
- Kuchen für Könige: So was Blödes: Nun hatte Katharina die Große schon diesen pittoresken Sommersitz im Tallinner Osten, aber sie hat es nie bis hierher geschafft! Glück für die Nachgeborenen: Die weitläufige Parkanlage von Kadriorg, bequem ab der Innenstadt per Straßenbahn oder Leihfahrrad zu erreichen, ist Picknick-Paradies, lockt mit nostalgischen Terrassencafés und einem modernen Kunstmuseum.
- Auferstanden aus Ruinen: Genug von Puppenstuben-Flair der Altstadt? Eine Viertelstunde Fußweg in Richtung Westen liegt das Trendviertel Kalamaja mit einem alten Fabrikkomplex namens “Telliskivi Creative City” – so etwas wie das Schanzenviertel bzw. das Kreuzberg von Tallinn. Zwischen Flohmarkt- und Jungdesigner-Boutiquen, Fair Trade-Kaffeebuden und Clubs sind garantiert keine Kreuzfahrts-Senioren auf dem Citytrip Tallin unterwegs, dafür umso mehr witzig gestyltes Jungvolk.
Mehr Info: www.visittallinn.ee