Dienstag, 12. September 2017, Mitternacht: Mit einen unspektakulären “Wusch” verschwindet eine Mail mit 270-Seiten-Anhang aus meinem Ausgangsordner. Ein kleiner Wusch für meinen Rechner, ein großer Wumms für mich. Das Manuskript von „Die Lichter unter uns“ ist auf dem Weg zu meiner Lektorin nach Frankfurt. Dieser Moment und das folgende Warten auf Antwort fühlt sich ungefähr so an, als würde man seinem Kind bei einem Bühnenauftritt zuschauen: Ist es nervös, vergisst es seinen Text oder seine Noten, bekommt es ehrlichen Applaus oder eher Mitleidsklatschen? Es ist keine originelle Metapher, aber sie passt einfach: Wenn man so lange mit einer Geschichte schwanger gegangen ist, über Monate oder sogar Jahre, dann fällt es schwer, sie in die Welt zu entlassen. Dann ist sie über lange Zeit ein Teil von einem selbst geworden, eine parallele Wirklichkeit, in der man gelebt hat und die man nun loslassen muss. Als Leser kennt man das Gefühl ja auch: dieses Bedauern, Abschied von lieb gewonnenen Figuren zu nehmen. Wie geht es da erst denen, die diese Figuren erfinden?
Es gibt ein paar typische Fragen, die jeder hört, der schon mal einen Roman oder auch nur eine Kurzgeschichte geschrieben hat. Ganz weit oben: Wie kommst du auf deine Ideen, deine Plots? Wie fallen dir die Figuren ein? Ich finde diese Fragen sehr nachvollziehbar, denn in der langen Zeit meines Lebens, in der ich nur Leserin war, nicht Schreiberin, konnte ich mir das auch nie erklären. Mittlerweile, mit einer ganzen Reihe von Romanen und Kinderbüchern in Gepäck, würde ich es so sagen: sowohl die Figuren als auch die Handlung sind vor allem Umdrehungen, Was-Wäre-Wenn-Varianten eines Lebens, das mir vertraut ist. Einen Roman zu beginnen und weiterzuentwickeln, das fühlt sich für mich so an, als würde ich das Geländer der Realität ganz behutsam hinter mir lassen und sehen, was es daneben noch gibt. Ein bisschen wie der Held aus „The Big Blue“, meinem Lieblingsfilm aus den Achtzigern. Ganz am Ende, auf dem Meeresgrund, lässt er die Tauchstange los und folgt einem Delfin. Klingt ein wenig kitschig, aber trifft meine Empfindung ziemlich genau.
Fragen an Schriftsteller: Sind das Sie, und haben Sie das alles erlebt?
Ich bin jedes Mal erstaunt, wie schnell die Figuren, die in meinen erfundenen Welten leben, lieben, agieren, fast nichts mehr gemein haben mit realen Vorbildern. Wie sie ganz schnell der inneren Skizze entwachsen, die ich mir am Anfang von ihnen mache, und ihren Kokon sprengen. Amüsant finde ich immer, wenn Leser glauben, dass sie mich in der ein oder anderen Figur wiedererkennen würden, vielleicht, weil sie im Aussehen oder von ihren Lebensumständen her so ähnlich ist wie ich – dabei gibt es andere, häufig Nebenfiguren, denen ich mich persönlich viel näher fühle. Und zwar unabhängig, ob Mann oder Frau, jung oder uralt.
Eine andere Frage lautet: Muss ein Schriftsteller eigentlich selbst viel erleben, um spannende Texte zu schreiben? Ich würde sagen: Jein. Manchmal kann die Realität sogar hinderlich sein; es malt sich besser auf einem weitgehend leeren Blatt. Und häufig sind wahre Ereignisse und echte Personen schlicht so irre, dass sie auf Papier nicht funktionieren – zu klischeehaft, zu unglaubwürdig. Es ist sicherlich nicht verkehrt, wenn jemand, der schreibt, ein paar existenzielle Erfahrungen gemacht hat – Lust, Liebe, Angst, Scheitern. Man wird mit dem Alter und der eigenen Lebenserfahrung besser, da bin ich einer Meinung mit meinem letzten Interviewpartner. Aber ein guter Roman misst sich nicht an der Menge exotischer Schauplätze oder literarisch verpackter Fakten (na gut, Frank Schätzing ist da vielleicht die Ausnahme – dessen hybride Mischung aus Sachbuchwissen und Spannung ist einigermaßen einzigartig).
Das musste ich aber auch erstmal lernen. Ich erinnere mich an die Minderwertigkeitsgefühle, die ich hatte, als ich mit Ende 20 eine Zeit in New York verbrachte und dort Poetry Slam-Storys bei Bühnenlesungen hörte: All die karibischen Großmütter, die bewegten Lebensgeschichten, die Großstadt mit ihren scharfen Ecken und Kanten – was hatte ich dagegen schon zu erzählen von meiner deutschen Mittelstandsexistenz? Ein puertoricanischer Dichter hat sich bei einem Bier mein Gejammer angehört und mich dann gefragt, wie es im Keller meiner Großmutter roch. Wusste ich noch genau. Er hat mich angeschaut, gegrinst und gesagt: Dann schreib doch das!
Anderer Keller, andere Großmutter
Daran habe ich mich gehalten – auch wenn in meinem neuen Roman (wer mag, kann den Anfang hier lesen!) keine Großmutter vorkommt und ein ganz anderer Keller. Weil ich irgendwann gemerkt habe, dass ich nur in der Lage bin, eine Geschichte zu erzählen, wenn ich einen Bezug dazu habe. Ob eigene Kindheitserinnerungen, die Arbeitswelt, der ganz normale Wahnsinn mit Job und Familie – das ist nicht spektakulär, aber dafür hoffe ich, dass sich darin andere wiederfinden, die sagen: Genau so geht es mir auch, genau diese Fragen stelle ich mir. In der Geschichte, die ich gestern abgegeben habe, geht es zum Beispiel um unerfüllte Sehnsüchte, Neid und Projektionen – wer hat das bessere Leben? -, um das schwierige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern und das um sich greifende Unsicherheitsgefühl in einer chronisch kranken Welt. Keine fremde Welt, keine voller Magier und Elfen, aber trotzdem hat das Erschaffen für mich einen besonderen Zauber. Denn manchmal haben meine Figuren Antworten für mich, auf die ich noch gar nicht gekommen bin. Und vielleicht bin ich nicht die einzige, die mit diesen Antworten etwas anfangen kann.
Die tollen Bilder verdanke ich übrigens der Frankfurter Fotografin Gaby Gerster. Sie hat mich zu Pressezwecken für den S. Fischer-Verlag vor die Kamera gebeten, in dem mein Roman im Frühjahr 2018 erscheint. So gut habe ich mir noch selten gefallen – danke!
Eine wundervolle Geschichte. Wie geht es weiter? Wann kommt das Buch?
Danke, liebe Eva! Seit ein paar Tagen kann ich dir die Antwort sogar ganz exakt geben: Das Buch erscheint am 26. April 2018 im S. Fischer Verlag. Titel: “Die Lichter unter uns.” Ich bin gerade in den letzten Zügen der Überarbeitung und schon sehr gespannt, wie es ankommen wird.