Herbstbücher müssen vieles können: uns berühren, uns durch die ersten kühleren Abende tragen, sich gut machen auf dem Sofatisch neben einem Glas Rotwein oder einem Becher heißem Tee. Wir haben schon mal vorgeschmökert und wissen: Wenn ihr diese drei aktuellen Romane noch nicht im Liegestuhl geschmökert habt, dann packt sie euch auf den Sofatisch oder ans Bett. Aber dann nicht beschweren, wenn ihr nicht genügend Schönheitsschlaf bekommt – denn diese Lektüre kann süchtig machen!
Esthers Herbstbuch 2016
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes, 22 Euro
Inhalt: Drei Geschwister verlieren ihre Eltern bei einem Unfall. Bis dahin wuchsen sie behütet auf, danach kommen sie in ein Internat. Alle glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben.
Warum dieses Buch Esther berührt hat:
Auf der Rückseite steht der Satz: “Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind: Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.” Diese Worte kann jeder nachvollziehen oder hat etwas Derartiges schon erlebt und gefühlt. Das machte mich neugierig. Verliebt aber habe ich mich in die Sprache von Benedict Wells. Kein Satz, nein, nicht einmal ein Wort ist überflüssig. Präzise und gleichzeitig leicht fließt die Geschichte beim Lesen in mich hinein. Und ich versuche, mein Tempo zu bremsen, um das Buch voll auskosten zu können. Am Ende verstehe ich den wichtigen Satz auf dem Buchrücken besser, als ich es vorher ahnte, und genieße die vielen kleinen Geschichten in der Geschichte, die nicht bis zum Ende auserzählt werden. Es bleiben Fragezeichen – immer wieder zwischendurch halte ich inne und überlege, wie sie beantwortet werden könnten. Manchmal finde ich keine, aber das Buch wirkt weiter.
Verenas Herbstbuch 2016
Juli Zeh: Unterleuten, Luchterhand Literaturverlag, 24, 99 Euro
Inhalt: Ein Dorf im Brandenburgischen, 20 Jahre nach der Wende: willkommen im gesamtdeutschen Intrigantenstadl! Denn Leichen im Keller, das haben sie alle miteinander: Der alte LPG-Chef genau so wie die hippen, ökobewegten Vogelschützer, die aus Berlin aufs Land geflüchtet sind, die geschäftstüchtige Pferdebesitzerin wie die mutterlose Pathologin. Als in der Gemeinde ein Windpark errichtet werden soll, wirkt das wie ein Brandbeschleuniger auf schon lange schwelende Konflikte. Das geht nicht für alle gut aus.
Warum dieses Buch Verena berührt hat:
Ich gestehe: Ich mochte Juli Zeh nie besonders. Sie war mir immer einen Tick zu altklug, und zu sehr sprach aus jeder Zeile ihrer Romane so ein unterschwelliges: Hey, ich bin nicht nur Geschichtenerzählerin, ich bin auch Juristin und sauschlau und weiß, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mit “Unterleuten” – der Name ist natürlich Programm – hat Juli Zeh für mich zum ersten Mal einen Roman geschrieben, in dem sie sich klug zurücknimmt und die Figuren und die Geschichte für sich sprechen lässt. Mal böse, mal zärtlich, mal intellektuell. Und was für Figuren! Wir kennen sie doch alle, den lebensuntüchtigen Computergame-Designer genau so wie den bauernschlauen Mittelständler, die besorgte Jungmutter und das durchtriebene Gör. Trotzdem gerinnt keine zum Klischee ihrer selbst, trotzdem sind sie ungemein lebendig in ihren Sehnsüchten, Ängsten, Wünschen. Und auch wenn man ahnt, dass diese explosive Mischung zum Schluss einigen von ihnen ordentlich um die Ohren fliegt, möchte man sie am liebsten vor sich selbst beschützen. Außerdem mag ich es, wenn Sprache so umfassend präzise ist – ob es um technische Beschreibungen geht wie eine Autoreparatur oder um die komplizierten Gefühle einer Frau für ihren ehemaligen Ersatz-Vater. Größte Überraschung: Musterschülerin Juli Zeh kann sogar komisch sein!
Silkes Herbstbuch 2016
Petra Oelker: Emmas Reise, Rowohlt Polaris, 14,99 Euro
Inhalt: Ein historischer Road-Roman. Die feine Hanseatentochter Emma reist kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg von Hamburg nach Amsterdam. Ihre zunächst beschauliche Reise wird zum Abenteuer, als sie sich als Mann verkleidet, um alleine weitere Reisen zu können. In Begleitung des Jungen Valentin setzt sie nach einem Überfall in der Wildeshauser Geest ihre Reise zu Fuß fort und findet sich plötzlich verstrickt in einen gefährlichen Komplott wieder.
Warum dieses Buch Silke berührt hat:
Diese Buch ist wie ein Gemälde – oder, nein, eher wie ein Gobelin. Denn so ein kunstvoll gewebter und bestickter Stoff spielt im Roman eine wichtige Rolle. Petra Oelker hat sehr sorgfältig recherchiert, und diese feine Handarbeit macht für mich einen Teil des Zaubers des Romans aus. Der andere sind die vielen Fäden, die kunstvoll ein Ganzes ergeben. Ein Schaustellertrupp, bekannte historische Figuren der Hansestädte Bremen und Hamburg, ein geheimnisvoller Musiker und ein einsamer Wolf sind interessante Nebenfiguren. Die abenteuerliche Reise geht durch eine Region, die ich gut kenne – und auch die Landschaftsbeschreibungen, bei denen ich den Duft des Moores in der Nase hatte, habe ich genossen. Am Ende wollte ich das Buch fast noch einmal lesen, denn ein paar Fäden hätte ich am liebsten herausgezupft und einfach weiter gesponnen.