Bertolt Brecht hat einmal einen sehr treffenden Vergleich zwischen dem Verhalten einer Stachelschweinhorde und dem sozialen Miteinander gezogen. Menschen, so schrieb der Dichter, seien in einem ähnlichen Dilemma wie Borstenvieh an einem kalten Wintertag: Drängeln sie sich zu nah aneinander, ist ihnen schön warm, aber die Stacheln pieksen; halten sie zu viel Abstand, piekst nichts, aber dafür ist es verdammt zugig. Daran musste ich denken, als ich kürzlich den neuen Roman “Der Pfau” las – denn der lässt sich als treffende Parabel auf die Kunst der Höflichkeit und des richtigen Abstandes verstehen. Und auch ein Spruch meiner lang verstorbenen Großmutter fiel mir ein: “Die Wahrheit gehört in den Giftschrank.” Weil es sich nämlich mit einer Dosis höflicher Notlügen häufig deutlich bequemer, nervenschonender und angenehmer leben lässt.
Der Pfau im Liebeswahn sorgt für jede Menge Verwirrung
Die Autorin des Pfauen-Romans heißt Isabel Bogdan. Sie lebt in Hamburg, ist Literaturübersetzerin, 40-something-Frau, Bloggerin und hat nach vielen Jahren liebevoller Übertragung von einer Sprache in die andere Lust bekommen, selbst etwas Literarisches schaffen. Was für ein Glück. Denn die Geschichte über eine Kollegengruppe rund um die neurotische Investment-Bankerin Liz beim Teambuilding-Wochenende in einem etwas abgewrackten schottischen Herrenhaus ist von schillerndem Charme und englischem Humor. Trocken wie ein Single-Malt-Whisky, exzentrisch wie Gurkensandwich und Essig-Chips, von psychologischer Raffinesse wie ein Jane-Austen-Roman.
Von der Handlung will ich gar nicht zu viel verraten, jedenfalls nichts, das deutlich über den ersten Satz hinausgeht: “Einer der Pfauen war verrückt geworden”, so heißt es über die Viecher, die auf dem Landsitz leben. Weil einer von ihnen im Liebeswahn das metallicblau schimmernde Auto der Chefbankerin attackiert, beschließen die Gastgeber, dass das Tier weg muss, und zwar endgültig. Der Ausgangspunkt einer irrwitzig verschlungenen Geschichte, in der auch die hinlänglich verschrobenen Figuren einem zunehmend ans Herz wachsen. Weil sie bei aller Verschiedenheit im Grunde das gleiche Ziel verfolgen: Bloß nicht auf den Gefühlen ihrer Mitmenschen herumtrampeln. Sondern genau den richtigen Abstand finden zwischen zu kalt und zu pieksig. Dass dabei alle miteinander – etwa der glatte Karrierist, der empfindsame schwule Kollege, die lebenskluge Köchin – mehr über sich und ihre Abgründe erfahren, als sie dem Teambuilding-Wochenende zugetraut hätten, nun ja, das ist relativ erwartbar. Aber das Wie, das macht den Roman Seite um Seite lesenswert.
Ihre Liebe zu Großbritannien, Land und Leuten merkt man der Autorin deutlich an: Mehr als einmal habe ich mich beim Lesen dabei ertappt, wie ich einzelne Wendungen im Kopf ins Englische zurückübersetzt und dann verwundert gemerkt habe, dass es ja tatsächlich ein deutscher Text ist. Für alle, die wie ich mit Miss Marple und Edgar Wallace aufgewachsen sind und in den 90ern im Kino in den englischen Literaturverfilmungen von Kenneth Branagh geschwelgt haben, wirken Setting und Figuren sehr vertraut. Kein Fehler – das Rendezvous mit dem Pfauen-Personal wirkt eher wie ein überraschendes Wiedersehen mit Weggefährten, die man lange aus den Augen verloren hat. Es spricht übrigens sehr für den Verlag (Kiepenheuer & Witsch), dass sich die dortigen Lektoren nicht gleich von dem für eine deutsche Schriftstellerin untypischen Setting abschrecken ließen. In meinem eigenen Autorenleben habe ich nämlich solche Ablehnungsgründe auch schon gehört: Kaum erfindet man Figuren, die nicht in ähnlichen Lebensumständen zuhause sind wie man selbst, wird einem ein Manuskript als unglaubwürdig um die Ohren gehauen. Schnickschnack. Ich wette, jeder englische Lord hätte seinen Tea-Time-Spaß mit Isabel Bogdans Geschichte, wenn die eines Tages verdientermaßen ins Englische übersetzt wird. Die Frau weiß schließlich, wovon sie schreibt.
Aber ist das nicht Weltflucht, in Zeiten, in denen wir täglich mit Krieg, Krisen und Gewalt zu tun haben? Müssten wir jetzt nicht eher die schweren, die sperrigen Romane von Jenny Erpenbeck oder Abbas Khider lesen, in denen es um Flucht, Vertreibung, Heimatlosigkeit geht? Ich denke: Ja, das sollten wir auch. Aber wenn es uns zwischendurch mal danach ist, im Geiste an ein Kaminfeuer zu flüchten, in eine Welt, die auch nicht heil ist, aber heilbar, und die im Kleinen ganz beispielhaft viel über unser Zusammenleben verrät – dann doch am liebsten mit Frau Bogdan zu den Highland-Pfauen.
Und dass der Roman ausgerechnet jetzt erscheint, in einem Frühjahr, in dem Pfauen-Accessoires der letzte Schrei sind – ist das nun Zufall, Schicksal oder eiskalte Berechnung? Egal: Im Zeitalter des Selfie-Narzissmus fügt sich die Pfauen-Literatur ganz wunderbar in die Reihe von It-Pieces ein, passend zu T-Shirt, Schal oder Schuhen. Glänzend, aber alles andere als oberflächlich. Das schönste Cover der Saison hat er sowieso. Prädikat: pfaumäßig gut.
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