Süßkramverbot? Nur Tee trinken? Kein Fleisch zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag? Soll jeder halten, wie er möchte, findet Verena – so lange sie nicht mitmachen muss
Und ihr so? Ihr habt doch sicher auch was, auf das ihr jetzt schon seit drei Wochen verzichtet. Weinchen am Abend, den Merguez-Teller zu Mittag, die Schoki oder die Zigarette zwischendrin, vielleicht sogar Facebook? Dann lest ihr das hier eventuell mit Verspätung. Online-Fasten hat allerdings einen großen Nachteil, man kann seine Etappen-Erfolge nicht so gut mit seinen 954 besten Freunden teilen. Schließlich ist bald Bergfest, bei den “sieben Wochen ohne” zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag. Und das wollt ihr doch sicher mit schönen Selfies begehen. Was immer ihr auch tut – oder besser: nicht tut! – ich bewundere euch und finde das super. Ehrlich. Ich mach nur dieses Jahr nicht mit.
Fastentrend 2016: höher, schneller, weiter
Wie, meine Worte klingen ein bisschen hämisch? Was, ihr glaubt, dass ich nur neidisch bin auf euer Stehvermögen und deswegen hier so rumstichle? Sorry, so war es nicht gemeint. Aber ich sag’s ganz ehrlich: Mir geht diese alljährliche Castingshow des Verzichts allmählich ein bisschen auf den Zeiger. Ja, es ist grundsätzlich eine gute Idee, Alltagsgewohnheiten zu hinterfragen (vor allem ungesunde), sich eine Zeitlang stärker aufs Wesentliche zu konzentrieren, freiwillig Versuchungen auszulassen in einer konsumorientierten Welt, so wie es ja auch der tiefere, spirituelle Sinn der Sache ist. Nur: Irgendwann hat sich diese Absicht ins Gegenteil verwandelt. Wenn ich in den letzten Wochen so lese, auf was Menschen alles verzichten, dann denke ich nicht an freiwillige Askese, sondern eher an die olympische Devise. Nicht “Dabeisein ist alles”, sondern “Höher, schneller, weiter”. Entweder nur auf Alkohol verzichten oder nur auf Süßkram? Das ist total 2015. Warmduscherfasten. Fastentrend 2016: mindestens fünf Laster gleichzeitig auslassen, und zusätzlich noch auf Psychohygiene achten. Eine Woche Wandern ohne Essen? Nichts für ungut, Esther, das ist auch für Anfänger. Das kann jeder. Aufs Rauchen hättest du schon auch verzichten müssen, aber eigentlich auch auf Telekommunikation und am besten auch aufs Schlafen und Atmen.
Die Kölner Sozialforscherin und Psychologin Ines Imdahl hat mir letztes Jahr mal erklärt, warum wir uns eigentlich so stressen mit dem Loslassen, dem Verzicht, dem freiwilligen Runterfahren. Weil wir es oft nicht als befreiende Wohltat erleben, sondern uns als zusätzliche Bürde aufladen, als zusätzlichen Anspruch, als weiteren Schritt in Richtung Selbstoptimierung. Gelassenheit, das große Ideal unserer Zeit, ist der Hauptgewinn in einem erbitterten Wettbewerb: Jetzt müssen wir eben zusätzlich zum Bauch-Beine-Po auch noch zum Yoga oder zum Mantrasingen. Also bitte pünktlich im Büro los, weil die Parkplatzsituation vor dem Studio echt die Hölle ist. Genau so ist es mit den “sieben Wochen ohne”, wenn wir nicht aufpassen: Statt fröhlich etwas fallen zu lassen und zu sehen, was das Downshifting mit uns macht, treten wir gleich ein in die nächste Staffel von „Deutschland sucht den Superfaster.“
Nichts trinken: ganz easy, wenn sowieso alle Freunde auf Prosecco verzichten
Und übrigens, die Sieben-Wochen-alkoholfrei-Variante habe ich vor ein oder zwei Jahren auch schon mal ausprobiert, und natürlich tat sie mir gut, auch wenn ich dafür unmerklich meinen Kekskonsum hochgeschraubt habe. Die ganz große Partyzeit sind diese Wochen derzeit ganz von selbst nicht, allein schon, weil alle um mich rum auch auf was verzichten und man ohnehin nirgends einen Prosecco angeboten bekommt. Ich verfolge dieses Jahr zwischen Fasching und Ostern einfach ein Prinzip, das Bestseller-Comedian Tommy Jaud in seinem letzten Werk erfunden hat: Das ESMI-Prinzip. Klingt total gesund, ist es wahrscheinlich auch, und steht für den Satz „Einen Scheiß Muss Ich“. Das heißt: Ich verzichte sieben Wochen lang auf jeden Ansatz zur Selbstoptimierung. Endlich wieder Lauftraining anfangen, morgens Frischkornbrei, abends grüne Smoothies, alberne Spiele-Apps auf dem Smartphone löschen? ESMI. Ich behalte einfach meine Laster, inklusive eines gelegentlichen vulgären Ausdrucks. 2017 sprechen wir uns wieder, vielleicht ist es dann zum Mega-Askese-Trend geworden, auf die „Sieben Wochen ohne“ zu verzichten. Dann überlege ich mir das übrigens auch wieder mit dem Rotwein am Abend. Ehrenwort.